Robert Jelinek, Dieter Würch
Udo Pollmer. Ohne Mampf kein Kampf
Verlag Der Konterfei 2017
68 Seiten, 9,90 Euro
Limitierte Auflage von 300 Stück

Foto: Der Konterfei

STANDARD: Veganer, Vegetarier, Flexitarier, Frutarier, Paleo-Anhänger, Low Fat und Low Carb – noch nie gab es so viele Ernährungsstile wie heute. Warum ist die Frage, was auf den Teller kommt, so relevant?

Pollmer: Vor allem für junge Menschen gibt es heute kaum noch die Möglichkeit von Bewährungsproben oder Herausforderungen. Durch die Digitalisierung und Automatisierung werden nicht nur die körperliche Arbeiten, sondern auch intellektuelle Leistungen von Maschinen erledigt. Das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden, nimmt ab. Deshalb gibt es neue Differenzierungen, die Identität stiften. Zentral ist dabei das Zurückgeworfensein auf den eigenen Körper. Deshalb befassen sich viele Menschen mit ihrer Ernährung.

STANDARD: Sind Ernährungsweisen auch eine Art Ersatzreligion in einer säkularisierten Welt?

Pollmer: Ja, es gibt aber nicht nur den Wunsch nach Religiosität, sondern auch darum, sich moralisch besser zu fühlen. Wer seine Bestätigung nicht mehr aus seiner Arbeit etwa als ambitionierter Physiker oder geschickter Autospengler gewinnen kann, pocht heute auf seinen Lebensstil. Der erhebt ihn über den Rest der Welt und erlaubt es, auf andere herabzuschauen.

STANDARD: Sind deshalb manche Ernährungsstile so dogmatisch?

Pollmer: Das zeigt sich besonders bei Vegetariern und Veganern: Der Veganer verachtet den Gesundheitsvegetarier und der Frutarier wiederum verachtet den Veganer. Das ist ein Wettbewerb der Radikalität.

STANDARD: Markieren Nahrungsmittel auch den sozialen Status?

Pollmer: Ja, wer die bessere Religion hat, gibt auch mehr Geld dafür aus. Damit kann er sich sozial differenzieren. Manche Produkte sind teuer, weil sie qualitativ hochwertig sind. Es geht aber vor allem um das Image, das mit ihnen verbunden ist – wie bei Markenklamotten. Auch Ernährungsweisen sind modische Entwicklungen, es gibt aber einen Unterschied zur Kleidermode. Wenn Sie Klamotten kaufen, dann schmeißen Sie die irgendwann weg und haben immer noch den alten Körper. Wer sich über einen längeren Zeitraum "Ernährungsklamotten" aussetzt, muss damit rechnen, dass er davon Schaden nimmt – und zwar für den Rest seines Lebens.

STANDARD: Was ist für Sie gesunde Ernährung?

Pollmer: Damit begeben wir uns wieder auf der Ebene der Religion. Der Begriff "gesund" ist ein religiöser und bezeichnet meistens eine Ernährung, die ich nicht deshalb wähle, weil ich sie mag oder weil sie meinem Körper gut bekommt, sondern weil sie von Ernährungspäpsten und -päpstinnen als "gesund" anerkannt wurden. Auf diese Weise tun sich Menschen Zwang an – und wenn sie sich ohne Not Zwang antun, laufen sie Gefahr sich zu quälen. "Gesund" hat das früher übliche Wort "fromm" oder "gottgefällig" abgelöst.

STANDARD: Die Menschen in den Industrieländern werden aber immer dicker – die Weltgesundheitsorganisation warnt vor einer Epidemie der Adipositas und des Übergewichts.

Pollmer: Ich warne vor einer Epidemie der Dummheit. Die Übergewichtsepidemie kann man leicht erzeugen, indem die Normen, ab wann Übergewicht vorliegt, verändert werden. Was früher normal war, gilt heute als zu dick. Hinzu kommt, dass sich auch das Körpergewicht eines Menschen biologisch im Lauf des Lebens ändert. Den niedrigsten Body-Mass-Index hat ein Mensch im Alter von neun, zehn Jahren. Ab der Pubertät nimmt das Körpergewicht bis etwa zum 60. Lebensjahr zu. Danach sinkt es wieder ab. Das ist Biologie.

STANDARD: Welche biologischen Mechanismen stecken dahinter?

Pollmer: Das hängt mit der Fortpflanzung zusammen. Nehmen wir den Körper einer heranwachsenden Frau. Solange sie ein Kind ist, entspricht der Körperbau dem eines Jungen. Wenn das Mädchen in die Pubertät kommt, werden Fettpolster angelegt. Damit ist sie in der Lage, später eine Schwangerschaft auszutragen – denn sollte Nahrung knapper werden, braucht sie Reserven. Diese Fettpölsterchen sind für die jungen Herren der evolutionäre Hinweis, dass sie jetzt mal beginnen sollten ihre Bewerbungen einzureichen. Mit den Schwangerschaften schwindet die Taille, der Körper hat seine evolutionäre Pflicht erfüllt

STANDARD: Wie ist das bei Männern?

Pollmer: Beim Mann gibt es auch solche Effekte. Wenn das erste Kind geboren wird, kriegt er meist ein Bäuchlein. Das hat folgenden Grund: Der Erzeuger sollte sich um den Nachwuchs kümmern, weil der menschliche Säugling drei Monate vor der Reife geboren wird. Das ist eine Folge des aufrechten Ganges, durch den sich die Geometrie des Beckens veränderte. Wenn der Vater seines Kindes ansichtig wird, geht sein Testosteronspiegel schnurstracks in den Keller. Das heißt, er wird häuslich. Weniger Testosteron bedeutet aber auch, dass der Bauch wächst.

STANDARD: Wie ist das bei Adipositas, welche Faktoren spielen hier eine Rolle?

Pollmer: Es gibt etwa hundert Ursachen für Adipositas. Was es braucht, ist die richtige Diagnose, und kein Diätplan. Einen Patienten, der Lungenentzündung hat und stark fiebert, würde man auch nicht in einen Kühlraum stecken, sondern behandeln. Adipositas kann etwa durch eine Infektion mit Adenovirus 36 ausgelöst werden.

STANDARD: Diäten helfen Ihrer Meinung nach nicht gegen Übergewicht und Adipositas. Warum?

Pollmer: Dazu muss ich etwas ausholen. Das Medikament Cortison führt bei regelmäßiger Einnahme zum Cushing-Syndrom, das sich auch in einem Fettbauch zeigt – ohne dass Betroffene mehr essen. Typische Folgen sind Herzinfarkt, Diabetes und kaputte Gelenke. Cortison ist sozusagen identisch mit Cortisol, einem Stresshormon, das der Körper selbst produziert. Wer gestresst und verzweifelt ist, schüttet viel Cortisol aus. Wenn Menschen, die ohnehin schon verzweifelt sind, noch zusätzlich eine Diät aufgebrummt bekommen, werden sie noch dicker. Es kommt zum Jojo-Effekt.

STANDARD: Wenn Sie eine Ernährungsempfehlung abgeben müssten, wie würde diese lauten?

Pollmer: Essen, was einem bekommt. Denn Unbekömmliches – egal wer es empfohlen hat – kann niemals bekömmlich sein. (Günther Brandstetter, 21.3.2017)