"Er muss an der Macht bleiben, zumindest bis 2024. Denn wenn er aus dem Spiel ist, wird es schlecht für ihn enden.", sagt Nina Chruschtschowa über Wladimir Putin.

STANDARD: Die EU ist destabilisiert wie selten zuvor. Gleichzeitig sehen wir einen US-Präsidenten von Putins Gnaden. Für eine "Regionalmacht", wie Barack Obama es formuliert hat, ist Russland derzeit ganz schön einflussreich, oder?

Chruschtschowa: In Präsident Obamas Außenpolitik gab es generell viel Wunschdenken. Wäre die Welt rational und alle ihre Akteure ebenso, hätte sein Ansatz funktioniert. Aber dem ist eben nicht so. Obamas Russland-Einschätzung illustriert dieses Fehlkalkül. Wladimir Putin hat sich dadurch in seiner Ehre gekränkt gefühlt und den USA gezeigt, wozu er imstande ist. Im Gegensatz zu Obama bewundert Donald Trump die autokratische Statur Putins. Diesen Führungsstil würde er gerne nachahmen. Zwischen diesen beiden Polen läuft es derzeit nicht besonders gut für Europa. Es muss aufpassen, dass es in diesem Sandwich nicht zerquetscht wird.

STANDARD: Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Trump durch russische Geheimdienstinformationen erpressbar sein könnte?

Chruschtschowa: Ich bin mir sicher, dass sie alles über ihn haben. Wenn sie die Server der Demokraten im Wahlkampf gehackt haben, dann waren sie auch in jenen der Republikaner drinnen. Es war bisher vorteilhafter für die Russen, diese Informationen geheimzuhalten. Wenn es sich als besser erweist, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, werden sie auch das tun. Man kann ja bereits einen gewissen Wandel sehen: In Russland flaut die Trump-Begeisterung ab. Bisher gab es wenig Gespräche zwischen Washington und Moskau, es gibt auch keine Pläne für ein Treffen. Die Russen könnten wieder umschwenken und sagen: Na ja, es wird wieder so ein amerikanischer Idiot sein, der zuerst alles verspricht und dann nichts einhält. Es ist gut möglich, dass Russland sich in die Weltgemeinschaft der Trump-Jäger einreiht. Je schwächer er wird, und Trump wird schwächer, desto größer könnten die Gelüste in Moskau werden, ihn tatsächlich auch loszuwerden.

STANDARD: Was ist das langfristige Ziel Wladimir Putins?

Chruschtschowa: Er muss an der Macht bleiben, zumindest bis 2024. Denn wenn er aus dem Spiel ist, wird es schlecht für ihn enden. Das System ist mörderisch, er ist in Gefahr. Daneben ist die Großrussland-Idee tatsächlich sehr wichtig für ihn. Und, was sollte er denn auch sonst machen? Er kann nicht mehr zum Skifahren in die Schweiz. Ihm bleiben die Krim und Sotschi. Aber das ist ziemlich begrenzt für einen Mann, der an beinahe unbegrenzte Macht gewöhnt ist.

STANDARD: Wie soll Europa damit umgehen?

Chruschtschowa: Obama hat ein Land mit elf Zeitzonen und einem Nuklearwaffenarsenal heruntergemacht. Europa ist dieser Einschätzung gefolgt. Das ist schade. Denn es hätte eine großartige Möglichkeit gehabt, im amerikanisch-russischen Verhältnis zu vermitteln. Angela Merkel hat es versucht, aber die USA haben das bald beendet. Die Ukraine mag ein wichtiger Faktor für Europa sein, dennoch hätte es nicht so kommen müssen, dass Putin das Gefühl hat, umzingelt zu sein und gegen den Westen kämpfen zu müssen, statt mit ihm zu sprechen.

STANDARD: Wie lange wird die russische Bevölkerung noch bereit sein, unter den Sanktionen zu leiden?

Chruschtschowa: Sehr lange. Die Russen waren schon 2011 und 2012 nicht bereit für einen Regimewechsel. Wenn es jetzt einen Staatsstreich gibt, dann geht er nicht von den Bürgern aus, sondern von Einzelnen in der Entourage Putins, die sich schlecht behandelt oder bedroht fühlen. Seit 2013 gibt es in Teilen von Putins Gefolgschaft großen Missmut wegen der Krimgeschichte.

STANDARD: Gibt es jemanden, der sich als Gegner Putins profiliert?

Chruschtschowa: Nein, und wenn Ihnen jemand etwas anderes sagt, ist es gelogen. Man kann über das Militär spekulieren oder den KGB. Als es seinerzeit gegen Chruschtschow ging, wusste niemand, dass Breschnew als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen würde. Vor einiger Zeit hätte ich noch gesagt, Sergej Iwanow (der ehemalige Chef der russischen Präsidialverwaltung, Anm.) wäre jemand, der Wladimir Putin herausfordern will. Aber ich höre, dass er sich völlig zurückgezogen hat und nur noch sein Geld ausgeben will. Allerdings: Was macht er mit seinen Milliarden in Russland? Das gilt übrigens für viele dieser Oligarchen. Deshalb, denke ich, wird irgendwo etwas köcheln. Vielleicht verbünden sich sogar Hardliner und Liberale. Es kann aber auch sein, dass Putin 2018 wiedergewählt wird und 2024, als alter Mann, noch einmal.

STANDARD: Was würde das für Europa bedeuten?

Chruschtschowa: Wenn das so eintritt, heißt es: Lernt umzugehen mit ihm. Es gibt keine andere Möglichkeit. Es ist besser, ihn zum Partner zu haben als zum Feind.

STANDARD: Sollte Merkel die deutsche Wahl gewinnen, wie werden sich die europäisch-russischen Beziehungen dann entwickeln?

Chruschtschowa: Sie ist extrem pragmatisch. Von allen Staats- und Regierungschefs ist sie vermutlich die Einzige, die Putin respektiert. Sie kennt ihn, sie hat ihm den Baum aufgestellt. Derzeit versucht er alles, damit sie nicht wiedergewählt wird. Aber deshalb, weil er ein Spieler ist und jede sich bietende Gelegenheit beim Schopf packt. Aber er ist eben auch pragmatisch und arbeitet mit dem, was er vorfindet. Derzeit mögen sie einander nicht grün sein, aber das kann sich ändern. (Christoph Prantner, 24.3.2017)