STANDARD: 43 Prozent der Österreicher wünschen sich einen starken Mann an der Spitze des Staates. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die Sie gerade gemeinsam mit dem Sora-Institut präsentiert haben. Wieso wünscht sich fast jeder zweite Befragte einen autoritär geführten Staat?

Rathkolb: Dass 43 Prozent sich einen starken Mann wünschen, ist ein eindeutiges Signal: Die Globalisierung, das Ende des Kalten Krieges, die digitale Revolution haben die Gesellschaften in ihren Grundfesten der Nachkriegsentwicklung erschüttert. Dieses lange Wachstum nach 1945 und das Entstehen sozialer Systeme, das sehen viele Menschen gefährdet. Und sie suchen klare Antworten, die ihnen in vielen Bereichen von den Rechtspopulisten gegeben werden – sei das Viktor Orbán oder Donald Trump. Ein Beispiel politischer Leadership im Rahmen demokratischer, aufgeklärter Systeme gibt es, wobei das die Ausnahme ist: die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Die jüngsten, steigenden Umfragewerte zeigen deutlich, dass sich dieser Weg mittelfristig auszahlt.

Zeithistoriker Oliver Rathkolb: "Viele sehen 'Law and order' als Allheilmittel. Dies hat drastisch zugenommen. Und man merkt die feine Nase der Politik: Das wurde sofort aufgenommen."
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STANDARD: Inwieweit spielt die Migrations- und Flüchtlingsfrage bei der Bewertung eine Rolle?

Rathkolb: Ich glaube nicht, dass das der Hauptpunkt ist. Die soziale Frage ist die wichtigere. Was die Menschen wirklich umtreibt, ist, dass sie keine klaren Zukunftsmodelle von der Politik bekommen – etwa die wirkliche Versicherung, dass ihre Pensionen halten. Die Jüngeren glauben ja nicht einmal mehr, dass sie eine Pension bekommen, obwohl die Systeme nach wie vor bestehen. Diese Verunsicherung ist das große Problem. Und da ist die Migrationsdebatte nur ein zusätzlicher Punkt.

STANDARD: Eine Antwort wird offenbar in einer Law-and-order-Politik gesehen: Da sind die Werte von 31 Prozent im Jahr 2007 auf 42 Prozent gestiegen.

Rathkolb: Ja, viele sehen "Law and order" als Allheilmittel. Dies hat drastisch zugenommen. Und man merkt die feine Nase der Politik: Das wurde sofort aufgenommen. Hier tummeln sich momentan fast alle Parteien, sodass kaum auszumachen ist, wer eigentlich die Über-Law-and-order-Partei ist.

STANDARD: Gefragt wurde auch zur Demokratie als Staatsform ...

Rathkolb: ... und da sind die Werte in diesen zehn Jahren um fast zehn Punkte auf 78 Prozent gesunken. Das ist alarmierend. Da gibt es einen massiven Schub.

STANDARD: Sehen Sie als Zeithistoriker geschichtliche Parallelen?

Rathkolb: Manche versuchen diese Prozesse mit der Zwischenkriegszeit zu vergleichen. Das ist aber insofern falsch, als die Ausgangsbedingungen völlig andere sind. Wir haben heute ein Sozialsystem in Westeuropa, das nicht einmal ansatzweise in der Zwischenkriegszeit existiert hat. Das Ausmaß der Globalisierung ist wesentlich größer als damals, und auch der Bildungsgrad ist höher. Aber die subjektive Angst kennt keine historischen Vergleiche. Findet die Politik keine Antworten darauf, dann stehen wir vor einem autoritären Zeitalter, wie dies der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf bereits in den späten 1990er-Jahren prognostiziert hat.

STANDARD: Die Einstellungen hängen sehr stark ...

Rathkolb: ... mit dem Bildungsgrad zusammen. Genau. Jetzt müsste die Politik den Stier endlich bei den Hörnern packen. In den Gymnasien und an den Universitäten passiert jetzt schon genug. Wir haben ein Problem ab den Volksschulen – trotz vieler Aktivitäten und engagierter Lehrerschaft. Es ist wichtig, dies nicht so sehr als Elitenprojekt zu betrachten, sondern stärker im Bereich der Pflichtschulen und der Berufsschulen zu arbeiten.

STANDARD: Braucht es einen Demokratieunterricht?

Rathkolb: Davon bin ich überzeugt. Man soll nicht dauernd von dem Unterrichtsprinzip Politische Bildung reden. Das funktioniert in diesem Bereich nicht. Dabei sind die besten Demokraten jene, die wenigstens historisch auf einer reflexiven Ebene wissen, was eine totalitäre Diktatur bedeutet. Der Bereich der kritischen Betrachtung und politischen Bildung wurde zu stark bei den Gymnasien und den Universitäten angesiedelt. Unser Gesellschaft ist aber breiter, und dem gehört Rechnung getragen.

STANDARD: Aber sehr viele wollen lieber einen Schlussstrich unter das Thema ziehen.

Rathkolb: Positiv ist, dass dieser Wert im Vergleich zum Jahr 2007 gesunken ist. Damals gab es eine wesentlich höhere Zustimmungsrate zur Schlussstrichdebatte. Jetzt sind es aber immer noch 40 Prozent. Auch wenn die Zahl sinkt: Jeder Vierte glaubt noch daran, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war. Es gehört einfach besser erklärt, dass es nicht darum geht, die alten Römer auf neu zu unterrichten, sondern dass diese furchtbare Erfahrung mit einer totalitären Diktatur in Europa die Basis für ein funktionierendes, demokratisches Systembewusstsein in der Gegenwart und Zukunft ist.

STANDARD: Wird von dieser Personengruppe die NS-Zeit als Kapitel der Geschichte betrachtet?

Rathkolb: Ja, und zwar in zwei Richtungen. Da sind jene, die durchaus als Hardcore-Totalitäre eingestuft werden können. Das sind 23 Prozent der Befragten gewesen, die votiert haben: "Wir wollen einen starken Führer, der nicht auf Parlament und Wahlen Rücksicht nehmen muss." Das ist ärger als Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin zusammen. Der zweite Teil sind die unter 35-Jährigen und ihre Einschätzung des Nationalsozialismus. Viele haben keine Ahnung. Die Älteren und sogar jene Generation, die noch von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs direkt betroffen war, haben einen kritischeren Blick auf den Nationalsozialismus als die unter 35-Jährigen. Das finde ich schon sehr irritierend.

STANDARD: Sind das mehr Männer als Frauen?

Rathkolb: Da gibt es kaum Unterschiede. Der massivste Unterschied liegt im Grad der Ausbildung und Bildung.

STANDARD: Sie haben für die Präsentation der Studie den 20. April, also den Geburtstag Adolf Hitlers, gewählt. Absicht oder Zufall?

Rathkolb: Das ist reiner Zufall, und ehrlich gesagt wir sind über diesen Jahrestag schon lange hinweg. (Peter Mayr, 20.4.2017)