Kirsten Rüther: "Afrika: genauer betrachtet – Perspektiven aus einem Kontinent im Umbruch", € 26,80 /207 Seiten. Edition Konturen, Wien 2017

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Kirsten Rüther ist seit Oktober 2012 Professorin für Geschichte und Gesellschaften Afrikas an der Universität Wien.

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Wien – Kirsten Rüther ist eine Historikerin, deren Verständnis von Geschichte eng damit verbunden ist, Geschichten zu erzählen – das kommt in ihrem ersten Buch, das sie nun bei Edition Konturen vorgelegt hat, deutlich zum Ausdruck. "Dieses Buch ist weder ein objektives noch ein neutrales Buch", mit dieser für eine Wissenschafterin ungewöhnlichen Bemerkung wartet die Afrikanistin, die vor knapp fünf Jahren an die Universität Wien berufen wurde, gleich in der Einleitung ihres Buches auf. Neben Archiven und wissenschaftlicher Literatur sind es vor allem Überraschungsmomente, Begegnungen und Erfahrungen, die für Rüther entscheidend zur Wissensbildung beitragen.

Das Buch will den Lesern Afrika auf eine Weise näher bringen, sie sich weniger am Kanon bestehender Afrika-Einführungen abarbeitet, sondern das Augenmerk vor allem auf jene Umbrüche lenkt, in denen sich afrikanische Gesellschaften aktuell befinden. Oder, wie es die Autorin ausdrückt: "Ich hielt es für wichtig, dem Besonderen auch besonderes Gewicht zu verleihen."

Von Zeitgefühl bis Jugendkultur

Im Speziellen interessiert Rüther dabei der Alltag und die Normalität, die Afrika jenseits von Katastrophen, Krisen und Kriegen nur selten zugestanden würden. Dabei geht es um so weit gefasste Themen wie das afrikanische Zeitverständnis, Migration, Stadt und Wohnen, Jugend, Religion und Gesundheit, aber auch Fotografie und Mode. Der Haupttext des Buches wird an einigen Stellen von künstlerischen Exkursen durchbrochen, die sich etwa auf Romane und Filme zum Thema beziehen und einen Kontrapunkt zur wissenschaftlichen Erörterung setzen.

So erfährt man etwa, dass Migration in Afrika vor allem ein männliches Phänomen ist: Während junge Männer vielerorts ihr Land verlassen, um anderswo besser bezahlte Jobs anzunehmen, bleiben die jungen Frauen häufig zurück, was wiederum dazu führt, dass sie ihre männlichen Kollegen bei tertiären Bildungsabschlüssen immer öfter hinter sich lassen. So ist in Port Sudan der Anteil weiblicher Studierender in 15 bis 20 Jahren von 20 Prozent auf rund 60 Prozent angestiegen, wie Rüther schreibt.

Weltweite Migrationsbewegungen

In der europäischen Perspektive wird Migration häufig als Phänomen wahrgenommen, das vor allem den europäischen Kontinent bestimmt. Rüther hingegen legt ihr Augenmerk auf afrikanische Migrationsbewegungen, wobei diese nicht von globalen Bewegungen getrennt gesehen werden können, wie sich etwa am Beispiel von Ärzten zeigt.

Da es die südafrikanischen Ärzte vor allem in die Städte und ins Ausland (alleine 2004 gingen knapp zehntausend Mediziner aus Südafrika nach Großbritannien, Australien, in die USA und andere Länder) zieht, wirbt das Land Ärzte aus Kuba für die ländlichen Regionen ab. Auch aus Kongo gehen Ärzte nach Südafrika, "um sich von dort auf den Weg nach Europa zu machen", schreibt Rüther, "dessen Staaten wiederum NGO-Hilfe für Kongo organisieren".

Liebe und HIV

Eine überraschenden Einblick in die afrikanische Jugendkultur eröffnet Rüthers Exkurs in die ghanische Stadt Kumansi zum Valentinstag: Sowohl die Stadt wie auch die Strände sind an diesem Tag rot, denn allerorts treffen sich junge Menschen, die in dieser Farbe gekleidet sind. Womit diese ein Zeichen der Liebe setzen wollen, schockiert die ältere Generation. Rüther dazu: "Aufgrund dieser Bilder wird in den Medien das Drohszenario einer sexuell unersättlichen und letztlich nicht mehr kontrollierbaren Jugend heraufbeschworen, vor allem, weil in den Diskussionen um Sexualität stets das Schlagwort HIV mitschwingt."

Rüthers Gabe, Geschichten eines Kontinents im Umbruch zu erzählen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, den Lesern Afrika umfassend in seiner Gesamtheit zu erklären, machen das Buch zu einer genussvollen Lesereise, die sowohl Afrikakundigen, wie auch Menschen, die sich noch nicht eingehender mit dem Kontinent beschäftigt haben, den einen oder anderen Überraschungsmoment zu bieten hat. (trat, 24. 4. 2017)