Wenn der Wunsch übergroß ist: Alkoholkranke wollen die Sucht lange nicht wahrhaben.

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Walter North ist Psychiater in Wien und medizinischer Leiter von Dialog, Verein für Suchthilfe.

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STANDARD: Wenn man frühmorgens im Café sitzt, ist man oft der Einzige, der keinen Alkohol trinkt.

North: Wir haben in Wien circa 40.000 bis 70.000 Menschen, die krank sind im Sinne einer diagnostizierten Abhängigkeit, weitere 140.000 bis 170.000 haben ein problematisches Trinkverhalten und konsumieren Alkohol über der als tolerabel eingestuften Menge. In Gesamtösterreich sind es 340.000 bis 500.000 Menschen. Zu uns kommt auf drei alkoholabhängige Männer eine Frau, der Anteil der Frauen nimmt deutlich zu. Da kann es schon sein, dass man in der Früh welche trifft.

STANDARD: Tolerable Menge heißt?

North: Die tolerable Menge pro Tag: 0,5 Liter Bier oder ein Viertel Wein oder drei kleine Schnäpse. Die Gefährdungsgrenze: 1,5 Liter Bier, ein dreiviertel Liter Wein oder neun Schnäpse zu 2 cl.

STANDARD: Wer ist gefährdet?

North: Wir stellen bei fast allen Abhängigen eine psychische Instabilität wie eine Depression oder Angststörung fest. Alkohol wird konsumiert, um Angst zu bekämpfen, sich "locker zu machen" oder um "in Stimmung zu kommen". Die Toleranzgrenze wird dabei immer weiter nach hinten verschoben, das heißt: Ich brauche mit der Zeit eine immer höhere Dosis. Irgendwann geht es sich nicht mehr aus.

STANDARD: Warum ist es so schwer, sich ein Alkoholproblem einzugestehen?

North: Weil die körperlichen und psychischen Folgeerscheinungen des Missbrauchs oft lange auf sich warten lassen, manche können zehn, 15, 20 Jahre trinken und "funktionieren" trotzdem.

STANDARD: Man belügt sich?

North: Richtig. Das ständige Lügen wäre eine intrapsychische Erklärung. Der Alkoholkranke versteht seine Sucht lange nicht als Problem, er sagt: "Tut eh jeder." Oder: "Ich habe alles im Griff." Solange man außerdem integriert oder im gesellschaftlichen Rahmen trinkt, fällt die Sucht nicht so auf.

STANDARD: Betrunkene wiederholen sich ständig.

North: Im Zustand der Berauschung leidet man unter Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, die so lange reversibel sind, bis es irgendwann zu spät ist.

STANDARD: Welche Alarmsignale sollte man ernst nehmen?

North: Symptome wie heimliches Trinken, Trinken am Morgen oder Schuldgefühle nach dem Trinken sind Zeichen eines problematischen Trinkverhaltens.

STANDARD: Gibt es "klassische" Trinker?

North: Nein, es wird in allen Schichten und nach unterschiedlichsten Mustern getrunken. Es gibt Menschen, die verschwinden für drei bis vier Tage ganz aus ihrem Umfeld und betrinken sich irgendwo hemmungslos, um dann die nächsten zwei bis drei Monate gar nichts zu trinken. Es gibt die vorgeblichen Genusstrinker, die meinen, ein "guter" Wein zum Abendessen wäre weniger schädlich als der Tetrapakwein der sichtbaren Trinker auf der Straße, dabei ist auch im "guten" Wein nicht weniger Alkohol drin.

STANDARD: Ist man besonders gefährdet, wenn schon die Eltern alkoholkrank waren?

North: Es gibt Studien über genetische Prädispositionen, die das belegen. Das Risiko ist sicher höher, aber es ist auch nicht so, dass jeder unbedingt anfängt zu trinken, wenn die Eltern getrunken haben. Eine stabile Persönlichkeitsstruktur ist nach wie vor der beste Schutz vor jeder Form der Abhängigkeit.

STANDARD: Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle?

North: In Hinblick auf den Konsum stellen wir in Österreich keines fest. Hinsichtlich der angebotenen Hilfestellungen allerdings sehr wohl, hier hinkt die Versorgung am Land stark hinterher.

STANDARD: Wie sieht eine gelungene Therapie aus?

North: Wenn der Patient selbst so weit motiviert ist, dass er eine Veränderung seines Verhaltens herbeiführen muss, kann sich nach dem körperlichen Entzug, der in der Regel fünf bis sieben, maximal 14 Tage dauert, mit professioneller Hilfe eine langfristige Verbesserung einstellen. Wobei nachhaltige Ergebnisse, unterstützt durch psychosoziale Begleitung, besser sind als Hauruckaktionen.

STANDARD: Der Klassiker: Stationär funktioniert es, aber kaum bin ich raus, fange ich wieder an.

North: Genau. Daher arbeiten wir hier sehr ressourcenorientiert, im Anton-Proksch-Institut nennen sie diese Methode Orpheus-Programm: Der Patient soll für sich neue Ideen entwickeln und Ressourcen entdecken, die ihn den Verlockungen des Alkohols widerstehen lassen – eine neue Form der Freizeitgestaltung, ein neues soziales Umfeld, ein Jobwechsel.

STANDARD: Drängt oder ermutigt man den Alkoholkranken zur völligen Abstinenz?

North: Davon sind wir weggekommen. Im Rahmen unseres Projektes Dialog 2020 betreuen wir unsere Patienten in Hinblick auf "harm reduction". Wir wollen ihnen helfen, eine deutliche Verringerung des Konsums zu erreichen. In der medizinischen Behandlung werden dann sogenannte Anti-Craving-Medikamente eingesetzt.

STANDARD: Wie funktioniert das?

North: Wenn ich weiß, dass ich am Abend zum Heurigen gehe, dann nehme ich am Nachmittag das Medikament. Am Abend sollte sich dann nach zwei, drei Spritzern nicht diese unkontrollierbare Gier nach mehr einstellen.

STANDARD: Wer selbst nichts ändern will, dem kann nicht geholfen werden: Gilt das noch?

North: Ja. Daher brauchen wir Aufklärung. Wir haben durch gezielte Aktionen zum Beispiel am Arbeitsplatz oder bei den Autofahrern den Konsum deutlich senken können, den Polier, der mit der Bierkiste auf die Baustelle kommt, werden Sie heute selten finden.

STANDARD: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz werden aber nicht besser.

North: Das ist leider richtig. Wir merken seit langem den ständig steigenden Druck in der Arbeitswelt bei gleichzeitig abnehmender Anerkennung der Leistung. Und wir haben viele Menschen, die mit bescheidenen finanziellen Mitteln auskommen müssen, da ist Alkohol eine verlockende Substanz, sich zu "entspannen".

STANDARD: Wie sage ich einem Menschen, dass er ein Problem hat?

North: Das hängt vom Umfeld ab. Weder mit Drohung noch mit Ultimaten noch mit verständnisvollem Wegschauen. Das Beste ist eine klare, motivierende Sprache. (Manfred Rebhandl, 6.6.2017)

Hinweis

Der Verein Dialog bietet Betroffenen und ihren Angehörigen Hilfe an.