Gemeinschaftswohnen auf Schweizer Weise: Wer gestern noch in der Kommune saß, ist heute Vorstand so mancher innovativer Wohnbaugenossenschaft und realisiert ungewöhnliche Wohnprojekte fürs Kollektiv.

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Im Bild: Foyer und Lobby des Wohnhauses Kalkbreite in Zürich.

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Es ist, als hätte man in einer Hotellobby Platz genommen. Das cognacfarbene Leder knarzt und knautscht, die Deckenlampen haben einen schillernden Messingglanz, und jeden Moment, so scheint es, kommt der Kellner mit Keksen und Café crème vorbei. "Nein, das nicht, aber luxuriös ist dieser Raum allemal", sagt Res Keller. "Doch unser Luxus ist nichts Exklusives, sondern ganz im Gegenteil etwas sehr Inklusives. Hier laufen sich die Bewohnerinnen und Bewohner über den Weg, hier treten sie miteinander in Kontakt. Es gibt viele Menschen, die uns um diesen Raum beneiden."

Die Lobby ist nicht der einzige Ort, der das Wohnprojekt Kalkbreite in Zürich-Wiedikon auszeichnet. Darüber hinaus gibt es ein kleines Restaurant, eine große Gemeinschaftsküche auf jeder Etage, diverse Werkstätten, mehrere verglaste Waschküchen, individuell anmietbare Bürozimmer sowie ein integriertes Hotel für den Tantenbesuch aus Luzern und St. Gallen. "Doch am häufigsten", sagt Keller, einer der Projektinitiatoren und ehemaliger Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft Kalkbreite, "passiert es, dass die Bewohner das Minihotel selbst nutzen, wenn sie mal mit dem Partner Zoff haben oder den pubertierenden Sohn für ein paar Monate ausquartieren wollen."

Ideen für alternatives Wohnen

Das Wohnhaus Kalkbreite, das vor drei Jahren fertiggestellt und bereits mit etlichen internationalen Auszeichnungen überhäuft wurde, ist eines von insgesamt 27 Projekten, die seit letztem Wochenende in der Ausstellung "Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu sehen sind. Und es ist eine fröhliche, eine extrem lustvolle Ausstellung mit fast schon comic- und cartoonhaften Elementen, die es schafft, dem eigenen thematischen Anspruch gerecht und selbst schon zu einem Ort der Sozialisation zu werden.

"Das ist keine klassische Nabelschau", sagt Andreas Ruby, Direktor des Schweizer Architekturmuseums und einer der vier Kuratoren der Ausstellung. "Wir wollten eine niederschwellige, ansprechende Ausstellung für interessierte Menschen machen. Bei uns kann man herumflanieren und sich inspirieren lassen, als würde man durch einen Ikea gehen. Mit dem Unterschied, dass es keine Möbel und Haushaltsgegenstände mitzunehmen gibt, sondern Ideen für ein alternatives, kollektives Wohnen." Selten hat Ausstellung so viel Freude bereitet wie hier.

Allein, die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens – ob in Mitteleuropa, Fernost oder den USA – ist nicht neu. Sie ist ein immer wiederkehrendes Thema, das von Epoche zu Epoche mal mehr, mal weniger dem Diktat der Selbstverwirklichung zu trotzen trachtet. Schon Arthur Schopenhauer erkannte: "Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: Nur in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel." Und so verwundert es nicht, dass die ersten Ideen eines kollektiven Miteinander-Wohnens bis ins früher 19. Jahrhundert zurückreichen.

Mustersiedlung für Gemeinschaft

Robert Owen entwarf 1825 eine Mustersiedlung für eine Gemeinschaft ohne Besitz und Eigentumsanspruch. Jean-Baptiste André Godin errichtete in Guise, Frankreich, die sogenannte Familistère, eine rechteckige Wohnhausanlage mit Laubengängen und riesigen Glaskuppeln über den Innenhöfen. Und Samuel und Henrietta Barnett boten in ihrer Toynbee Hall angehenden Akademikern die Möglichkeit, für begrenzte Zeit in einem Armenviertel Londons zu wohnen und sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der lokalen Bevölkerung zu engagieren.

Hinzu kommen diverse Leuchtturmprojekte des 20. Jahrhunderts wie etwa der Freistaat Christiania in Kopenhagen, die Unité d'Habitation von Le Corbusier in Marseille oder das Edifício Copan von Oscar Niemeyer in São Paulo. Auch Wiener Projekte wie etwa der Karl-Marx-Hof, Harry Glücks Alt-Erlaa oder die kompromisslos orange Sargfabrik, die mit sämtlichen Tabus brach und das Modell Wohnheim ein für alle Mal gesellschaftlich verankerte, haben ihren Platz inmitten der vielen raumfüllenden Wohn- und Gebäudemodelle, in die man am liebsten hineinkriechen und sofort zu wohnen beginnen würde.

Milch und Eier vor der Tür

Das wohl außergewöhnlichste Projekt in dieser Riege ist das 1904 errichtete Wohnhaus The Ansonia am Broadway in New York. Das heute noch bestehende Haus, das vielen anderen Wohnmodellen als Vorbild diente, bestand aus allesamt küchenlosen Apartments. Dafür aber gab es auf jeder Etage große Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftssalons. Auf dem Dach des 15-stöckigen Palais gab es zudem eine Farm mit Enten, Ziegen, Kühen und mehr als 500 Hühnern. Jeden Morgen lieferte ein Hausmeister den Bewohnern Milch und Eier vor die Tür.

Es ist dieser transnationale und transtemporale Blick über das Hier und Jetzt hinaus, der Together! so spannend macht und von bisherigen Ausstellungen über gemeinschaftliches Wohnen unterscheidet. "Ich finde den internationalen Vergleich sehr erkenntnisreich", so Kurator Ruby. "Denn tatsächlich variiert der Begriff des Gemeinschaftlichen von Land zu Land. In gewisser Weise ist jeder einzelne Ansatz ein wertvolles Lernmodell."

In japanischen und südkoreanischen Großstädten sind es meist alleinstehende Erwachsene, die immer häufiger Wohngemeinschaften gründen, weil sie weder die hohen Wohnkosten noch die Einsamkeit ertragen. Ganz anders Berlin, wo in den letzten Jahren mehr als hundert Baugruppen entstanden sind, die gemeinsam Grundstücke kaufen und ganze Wohnhausanlagen nach ihren eigenen Plänen und Wohnvorstellungen errichten. Oder etwa Wien, wo die individuelle und partizipative Planung längst zu einem Standardtool im sozialen Wohnbau geworden ist.

Mittags- und Abendmenüs

"Am meisten jedoch beeindruckt mich die Schweiz", sagt Ruby. "In einem Land mit einer 100 Jahre alten Wohnbaugenossenschaftskultur ist es gelungen, die eigene Tradition und die eigenen Werte innerhalb von ein, zwei Jahrzehnten völlig neu zu programmieren." Das hat nicht zuletzt mit den 68er-Kommunen und der Hausbesetzerbewegung der Achtzigerjahre zu tun. In den meisten Fällen sind es genau diese protestierenden Protagonisten, damals schon für eine leistbarere und lebenswertere Stadt kämpfend, die nun selbst Wohnbaugenossenschaften anführen und damit alternative, innovative Wohnprojekte entwickeln und realisieren.

"Und das Schöne", so Ruby, "ist, dass die Kraft dieser Wohnideen nicht nur auf die Wohnhausanlage beschränkt ist, sondern längst schon in den öffentlichen Straßenraum ausstrahlt. Es tut was mit der Stadt, wenn plötzlich Trauben von Menschen vor dem Haus sitzen und gemeinsam eine Grillparty schmeißen." Oder wenn sich, wie im Falle des Wohnhauses Kalkbreite, einige Bewohner zusammentun und einen Koch als Vollzeitkraft einstellen. Dieser schwingt wochentags den Löffel und bereitet Mittags- und Abendmenüs für seine Arbeitgeber zu.

Die Idee Together! ist ein wertvoller Impuls für eine alternde Gesellschaft mit immer mehr Singles und immer mehr Robinsons. Wo die Politik versagt, greift das Kollektiv ein. Das macht Hoffnung. (Wojciech Czaja, 11.6.2017)