Kommt genug Luft in die Lunge? Steigt die Herzfrequenz? Frühchensimulator Paul lässt Medizinerteams ihre Fähigkeiten unter realistischen Bedingungen trainieren.

Foto: SIMCharacters

Wien – Frühgeburt. Das Kleine ist mehr als zwei Monate zu früh dran. Es schreit nur zaghaft, atmet angestrengt, die Hautfarbe ist bläulich. Ein Kinderarzt steht bereit, nimmt das Frühchen von der Hebamme entgegen und bringt es zur Erstversorgungseinheit. Zwei Ärzte und zwei Pflegekräfte kümmern sich hier um das Baby. Die Vitalität wird überprüft, die Atmung unterstützt.

Steigt die Herzfrequenz? Ein Zugang wird gelegt, erste Medikamente ins Blut gepumpt. Das Baby wird für die Gabe von Surfactant vorbereitet. Die Flüssigkeit, die für einen funktionierenden Gasaustausch in der Lunge sorgt, ist bei Frühgeborenen nicht ausreichend vorhanden. Sie wird durch einen dünnen Katheter durch die nur etwa vier Millimeter schmale Stimmritze des Babys in die Luftröhre verabreicht. Dann wird das Kind in den Inkubator gebettet.

Die ersten Minuten entscheiden

In diesen hektischen Momenten ist es wichtig, dass das medizinische Personal perfekt zusammenarbeitet. "Die ersten Minuten entscheiden mitunter über das ganze Leben des Kindes", sagt Jens Schwindt. "Je eher Komplikationen vermieden werden können, desto besser wird sich das Neugeborene entwickeln."

Schwindt war 15 Jahre lang Kinderarzt an der Neonatologie des AKH Wien. Als Oberarzt hat er sich mit Fragen der Patientensicherheit befasst. Durch Training lässt sich ihm zufolge die Überlebenswahrscheinlichkeit von Frühgeborenen stark verbessern.

Heute ist Schwindt Unternehmer. Mit seinem Start-up Simcharacters hat er ein Werkzeug entwickelt, das ein gezieltes Training für den Umgang mit frühgeborenen Kindern erlauben soll. Dieses Werkzeug heißt Paul.

Paul ist ein Patientensimulator. Er besteht aus Sensoren und Motoren, Computerplatinen und Software, alles gepackt in eine Haut aus Silikon, die möglichst realistisch einem Frühgeborenen in der 27. Woche nachempfunden ist: 35 Zentimeter lang, 1000 Gramm schwer.

Während des Trainings zeichnet Paul eine Vielzahl von Parametern auf. Er misst, ob genug Luft eingeblasen wird und ob der Beatmungsschlauch korrekt platziert wurde. Motoren in Brustkorb und Bauch geben haptisches Feedback. Paul ist per WLAN mit einem Steuerungslaptop verbunden, an dem ein Trainerteam das Szenario überwacht. Ein Patientenmonitor gibt Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung und andere Daten aus. Pauls Akkus werden kabellos per Induktion geladen.

Authentisches Behandlungstraining

Der Simulator soll ein möglichst authentisches Behandlungstraining ermöglichen. "Wie arbeitet das Team zusammen? Wie wird kommuniziert? Gibt es eine klare Aufgabenverteilung im Team? Die Trainings müssen realistisch sein, damit das Erlernte im Ernstfall abrufbar wird", sagt Schwindt. "Auch Piloten müssen deshalb regelmäßig in den Simulator."

Die Trainingsteilnehmer spielen mit Paul Szenarien durch, die vordefinierten Lernzielen entsprechen. Auch wenn es nur eine Simulation ist, steht am Ende niemals ein totes Kind, betont der Entwickler. Geht etwas schief, hilft ein "Lifesaver" – etwa eine Schwester, die zum Trainerteam gehört. Probleme werden in der Nachbesprechung erörtert.

Mit Paul wird bereits in Krankenhäusern in Wien, Tübingen und Lübeck trainiert. Auslieferungen laufen in Osteuropa, Südafrika, den USA. Schwindt ist stolz, dass in seinem 15-köpfigen Team die Hardware für Paul selbst konzipiert, die Software selbst geschrieben wird. Künstler, die der Puppe die äußere Form geben, arbeiten mit Ingenieuren und Programmierern zusammen.

Die Anfänge von Paul liegen im Jahr 2010, als ein Projekt an der Med-Uni Wien zum ersten Prototyp führte. 2012 wurde das Start-up gegründet, 2015 gab Schwindt seinen Oberarztposten auf, um sich ganz um Paul zu kümmern. Finanzielle Mittel kamen von der Förderbank AWS und einem Investor aus Österreich. Im Mai wurde Simcharacters der mit 150.000 Euro dotierte Houskapreis der B&C Privatstiftung in der Kategorie "Forschung & Entwicklung in KMU" zugesprochen. (Alois Pumhösel, 2.7.2017)