Lernen, was das Leben zu lehren hat, damit man nicht angesichts des Todes feststellen muss, dass man nicht gelebt hat. Thoreau auf einer Fotografie aus dem Jahr 1856.

Sammlung Rauch / Interfoto / Pic
Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; die sich auf den Spuren Washingtons oder Franklins glauben und zugleich ruhig sitzen bleiben (...), sie sagen, sie wüssten nicht, was zu tun sei, und tun eben auch nichts; Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt und die nach dem Essen in aller Ruhe die Tagespreise zugleich mit den letzten Nachrichten aus Mexiko lesen und vielleicht über dieser Lektüre einschlafen. (Henry David Thoreau: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", 1849)

Man hat ihn als "Yankee Diogenes" bezeichnet, als "Eremit aus Concord" und als "Orakel vom Walden Pond". Für andere ist Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 12. Juli zum zweihundertsten Mal jährt, eine "Ein-Mann-Revolution" oder wahlweise ein "individueller Sozialist", ein Drückeberger, Aussteiger oder Ökofreak. Manchen seiner Zeitgenossen hingegen galt er schlicht als der "furchtbare Thoreau".

Leicht dürfte es Thoreau, der es mit seinen zwei Texten Walden oder Leben in den Wäldern (1854) und Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849) erst sehr lange nach seinem Tod zu Weltruhm brachte, seinen Mitmenschen nicht gemacht zu haben, denn er sagte gerne Nein. Nein zur Sklaverei, Nein zum Krieg gegen Mexiko (1846 bis 1848), in dem die Vereinigten Staaten dem südlichen Nachbarstaat die Bundesländer Texas, Kalifornien, Nevada, Utah, Arizona und New Mexico entrissen. Nein sagte er auch zur Ressourcenverschwendung und zu einer materialistischen Gesellschaft, die dem Wachstum alle anderen Werte unterordnet.

Wann immer es ihm notwendig schien, war Thoreau dagegen. Und das war oft. Thoreaus zeitweiliger Freund Ralph Waldo Emerson dazu am Grab Thoreaus: "Er war ein Rebell in extremis, und wenige Leben sind so entsagungsreich, wie es seines war. (...) Er heiratete nie, er lebte allein, er ging nie in die Kirche, er wählte nie, er weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen, er aß kein Fleisch, er trank keinen Wein, er rauchte keinen Tabak, und obwohl er ein Naturforscher war, benutzte er weder Fallen noch ein Gewehr."

1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten mit hugenottischen Vorfahren und einer energiegeladenen Mutter, die eine Pension führte, als drittes von vier Kindern geboren, verbrachte Thoreau mit seinem Bruder und zwei Schwestern eine glückliche Kindheit. Die Familie lebte in Concord, Massachusetts, einem mit 2000 Einwohnern kleinen, allerdings geschichtsträchtigen Städtchen, von dem aus 1775 der amerikanische Befreiungskrieg gegen die Briten seinen Ausgang nahm.

Lehrerlaufbahn endet nach zwei Wochen

Thoreau verließ seine Geburtsstadt zeitlebens nur kurz und ungern. Unter anderem für ein Studium, das ihm die finanzielle Unterstützung seiner fünf Jahre ältere Schwester Helen in Harvard, damals ein College mit 400 Studenten und 25 Professoren, ermöglicht hatte. Hier erwarb sich der 16-Jährige ein breites Wissen in Altphilologie, Französisch, Italienisch, Deutsch, Mathematik, Geologie, Botanik und Philosophie. Die Lehrerlaufbahn, die Thoreau nach seinen Studien in Concord einschlug, endete allerdings nach zwei Wochen. Ein Schulinspektor hatte den jungen Lehrer ermahnt, vom stets probaten Mittel der Prügelstrafe Gebrauch zu machen, um Ordnung zu schaffen. Was Thoreau ablehnte.

Noch am selben Abend schrieb Thoreau die Kündigung – und er begann sein tausende Seiten umfassendes Tagebuch, das fürderhin der Steinbruch sein würde, aus dem er seine literarischen und essayistischen Werke brach. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer einer zusammen mit seinem Bruder gegründeten, nicht unerfolgreichen Privatschule, die auf progressivere Erziehungsmethoden setzte als das staatliche System, war Thoreau schließlich nach dem frühen Tod Johns gezwungen, sich mit verschiedensten Arbeiten als "Lehrer, Erzieher, Geometer, Gärtner, Bauer, Maler, Zimmermann, Tagelöhner, Bleistiftfabrikant, Schriftsteller und Poet" finanziell über Wasser zu halten.

Richtig leben

Unterstützung leistete dabei neben der Familie der ebenfalls in Concord ansässige Philosoph, Autor und Transzendentalist Ralph Waldo Emerson, dessen Programmschrift Natur Thoreau in Harvard eine Art Erweckungserlebnis beschert hatte. Vor allem Emersons Forderung, der Mensch solle so nah wie möglich mit der Natur leben und Gott in jedem Stein, jedem Bienensummen oder Wolkenflug erkennen, beeindruckte Thoreau tief. Er machte Emersons Credo zu seinem eigenen, und er radikalisierte es.

Emerson war es auch, der Thoreau die ersten Publikationen in Zeitschriften ermöglichte, und am 4. Juli 1845, dem Unabhängigkeitstag, begann Thoreau, der sich mittlerweile als Autor verstand, jenes "Experiment", das in berühmt machen sollte und als Sehnsuchtsbild noch heute in vielen Köpfen herumspukt.

Am nahe Concord gelegenen Walden-Teich bezog er für zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage eine selbst gezimmerte Hütte. Er schreibt darüber im Buch Walden, das 1854 erschien: "Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist kostbar." Neben Wachheit und Aufmerksamkeit empfiehlt Thoreau vor allem Einfachheit. Immer wieder Einfachheit. Das Ziel lautet, "hart leben und sich doch wohl befinden". Die Frage, die es zu beantworten gilt, heißt: Wie erlangt man größtmögliche Freiheit? Von den Dingen, den Menschen, von sich selbst.

Es ist kein Zufall, dass das erste und gewichtigste Kapitel von Walden den Titel Ökonomie trägt. Wer sich von ihr abhängig mache, nicht zuletzt durch Anhäufung von unnötigem, zuweilen kreditfinanziertem Besitz, ist laut Thoreau auf dem Holzweg. Wobei es dem Autor weniger um Entsagung denn um Reduktion zwecks Erhöhung der Freiheitsgrade geht.

Der Walden Pond liegt nicht allzu weit weg von Concord, weit genug jedoch, um ein abgeschiedenes Leben zu führen und für die Bewohner der Stadt als Sonderling und Kauz zu gelten. Thoreau tat alles, um diesem Image gerecht zu werden. Am 23. Juli 1846 macht er sich auf den Weg nach Concord, um dort seine Schuhe flicken zu lassen, unterwegs wurde er vom Steuereintreiber verhaftet, weil er sich seit sechs Jahren weigerte, die Kopfsteuer zu zahlen. Eine Nacht verbrachte er im Gefängnis und kam wieder frei, weil jemand, offenbar seine Schwester, die Steuerschuld beglich.

Ziviler Ungehorsam

Dieser Gefängnisaufenthalt gab den Anstoß zu Thoreaus wohl einflussreichster Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849), auf die sich später Mahatma Gandhi, die Kämpfer der Résistance, Martin Luther King und Nelson Mandela ebenso berufen werden wie Steuerverweigerer, Vietnam- und heute die Trumpgegner.

Der Staat, so Thoreau in der unter dem griffigeren Titel Ziviler Ungehorsam bekanntgewordenen Kampfschrift, ist ungerecht. Er führt mit Steuergeldern Kriege, denen das Volk niemals zugestimmt hätte, er duldet in verlogener Weise die Sklaverei, um daraus Profit zu schlagen. Zudem ist der Staat laut Thoreau unmenschlich, weil er der Habgier Einzelner dient und den Bürger zur Nummer, zur Maschine, zum nützlichen Idioten degradiert.

Weiter sieht er in der Trägheit und Leichtgläubigkeit der Wähler ein Problem, denn "auch für das Rechte stimmen heißt nichts dafür tun". Thoreaus Fazit: In einem Unrechtsstaat ist Widerstand Pflicht- und das Gefängnis der einzig richtige Platz für einen ehrenwerten Mann. Laut einer Anekdote soll Emerson zum Gefängnis geeilt sein und entsetzt gefragt haben: "Henry, warum bist du hier?" Thoreau: "Waldo, warum bist du nicht hier?"

Zu Thoreaus zweihundertstem Geburtstag sind naturgemäß eine ganze Reihe von Büchern erschienen, zwei seien hier stellvertretend herausgehoben. Der Publizist und Autor Frank Schäfer hat bei Suhrkamp eine feine und informative Biografie vorgelegt, der dieser Text viele Informationen verdankt. Schäfer stellt Thoreau nicht auf ein Podest, vielmehr wählt er einen vielschichtigen und differenzierten Zugang, der auch die reaktionären und puritanischen Seiten Thoreaus transparent werden lässt. Selbst wenn Schäfer die frühen Liebesenttäuschungen Thoreaus herausarbeitet, vermeidet er in seinem Buch jegliches Psychologisieren. Erfrischend.

Knausgård der Naturbetrachtung

Ergänzend sei auch der zweite Band mit Auszügen aus Thoreaus Tagebüchern aus den Jahren 1840 bis 1850 bei Matthes & Seitz empfohlen, der nicht nur ein emotionales, kämpferisches Nachwort des Autors Holger Teschke enthält, sondern neben dem Denker auch den Naturbeobachter Thoreau in dessen eigenen Worten zeigt. Man lernt als Leser des Tagebuchs einen geduldigen Zuschauer des Treibens von Bisamratten, Falken, Schlangen, Eichhörnchen kennen, aber auch einen großen Sänger des Werdens und Vergehens von Vegetation und Fauna. Thorau erweist sich in seinen detailreichen Schilderungen als eine Art Karl Ove Knausgård der Naturbetrachtung, was nicht jedermanns Sache sein muss.

Thoreau ist zuweilen nicht leicht zu lesen, er liebt die Behauptung mehr als den Beweis und zieht das freie Assoziieren der stringenten Argumentation vor. Immer wieder aber stößt man bei der Lektüre dieses Autors, der kein Kabinenbillett nehmen wollte, "sondern lieber vor dem Mast auf dem Deck der Welt stehen" wollte, auf Sätze, die in Erinnerung bleiben. So ruft Thoreau etwa einer Alse nach, die flussaufwärts zum Laichen schwimmt: "Halte die Flossen steif und schwimme gegen alle Fluten, die du treffen magst!"

Den Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges, der sich an wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen und dem Umgang der Südstaaten mit der Sklaverei entzündete, erlebte Thoreau, dem zu Lebzeiten als Autor ein überschaubarer Erfolg zuteilwurde, gerade noch mit. Er starb am 6. Mai 1862 in Concord an Tuberkulose. (Stefan Gmünder, 1.7.2017)