Wien – Das Wunder geschieht täglich aufs Neue. Milliardenfach. Eizellen werden befruchtet und beginnen anschließend, sich zu teilen. Aus einem zunächst kugeligen Gebilde entsteht bald ein kleiner Körper. Das heranwachsende Geschöpf kann länglich sein oder gedrungen; es wachsen Glieder oder nicht; Organe entstehen und vielleicht ein komplexes Gehirn – die Formenvielfalt der Natur ist schier unerschöpflich. Doch die Baupläne aller Kreaturen gehen bekanntlich aus ein und demselben Codierungssystem hervor. Die DNA enthält die Information für die Zusammensetzung von Proteinen. Alles Weitere hängt vom Wechselspiel eben solcher Moleküle ab. Eine Symphonie von gewaltiger Komplexität.

Maria Leptin hat sich der Aufgabe gestellt, dieses Meisterwerk der Evolution zumindest teilweise zu durchleuchten. "Ich möchte die ersten 15 Minuten der Entwicklung eines Embryos komplett im Computer simulieren können", sagt die am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg tätige Wissenschafterin.

Biochemische Maschinerie

Die Forschung sei in den vergangenen 30 Jahren reduktionistisch orientiert gewesen. Man war auf einzelne Mechanismen, Gewebe oder Moleküle fixiert, so Leptin. "Es ist an der Zeit, eine Synthese zu machen und herauszufinden, wie die Zellen zusammenarbeiten. Das alles muss in einen größeren Kontext integriert werden." Um die Embryogenese bis ins kleinste Detail studieren zu können, setzt Leptin vor allem auf bekannte Modellorganismen: Taufliegen der Gattung Drosophila. Viele der bei ihnen stattfindenden Prozesse ähneln den Entwicklungsvorgängen anderer Tierarten oder sind gar identisch. Auf der zellulären Ebene agiert die Evolution oft äußerst konservativ. So manche biochemische Maschinerie findet sich sowohl bei Quallen wie beim Menschen. Aber wieso wachsen Homo sapiens dann Hände statt Tentakel? Diese Frage mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, sie ist es keinesfalls.

Die dreidimensionale Gestaltung von Organismen hängt zu einem wesentlichen Teil von Veränderungen in der Zellform ab, sagt Leptin. "Und die Hauptrolle dabei spielt das Zytoskelett." Dieses Netzwerk aus winzigen Röhrchen und Fäden durchzieht jede Zelle. Es gibt ihnen Stabilität, aber auch Flexibilität und Beweglichkeit, denn im Gegensatz zum Beispiel zu den Gerippen der Wirbeltiere ist das Zytoskelett ein äußerst dynamisches Gebilde. Seine hauptsächlich aus den Proteinen Aktin, Myosin und Tubulin bestehenden Strukturen werden ständig den aktuellen Anforderungen angepasst. Abbau und Neuentstehung gehen praktisch Hand in Hand. Die Zellen können dadurch ihre äußere Form ändern oder sogar wandern. Eine gezielte Interaktion zwischen Aktin und Myosin lässt die Fasern kontrahieren, die Zelle als Ganzes oder Teile von ihr ziehen sich zusammen und können sich anschließend wieder strecken. So kommt Bewegung ins System. Der besagte Mechanismus ist übrigens auch für die Funktionsfähigkeit unserer Muskeln verantwortlich.

Auf das Umfeld kommt es an

Welche Bedeutung die Zellbeweglichkeit für die Morphogenese hat, zeigt sich unter anderem während der sogenannten Gastrulation. In dieser Stufe der frühen Embryonalentwicklung entsteht das Entoderm, die Grundlage für die spätere Bildung des Darmkanals und weiterer Organe. Am Anfang dieses Prozesses besteht der neue Organismus noch aus einer quasi hohlen Zellkugel. Dann jedoch stülpt sich ein Teil der Oberfläche nach innen, es wächst eine Tasche. Um diesen Umbau zu bewerkstelligen, ziehen einige Zellen ihren nach außen gerichteten Teil der Zellmembran zusammen. Den Antrieb bilden kontaktierende Fäden das Zytoskeletts. Deren Aktivität wird von zwei verschiedenen Proteinen mit den Bezeichnungen Twist und Snail reguliert (vgl.: Nature, Bd. 457, S. 495), die selbst wiederum der Kontrolle durch andere genetische Faktoren unterliegen.

Twist, Snail und die von ihnen (mit)gesteuerte Gastrulation sind nur einer von sehr vielen Regelkreisen der Morphogenese. Die meisten solcher Wechselwirkungen dürften der Wissenschaft noch unbekannt sein, ebenso wie die daran beteiligten Gene. Was die Sache noch schwieriger macht: Zahlreiche DNA-Codes und ihre Produkte haben Mehrfachfunktionen. Abgesehen davon gibt es Rückkopplungseffekte (vgl. u. a.: Nature, Bd. 541, S. 311).

Ein bestimmter Typus von Stammzellen entwickelt sich zum Beispiel zu Neuronen, wenn sie in Nachbarschaft von weichem Gewebe wachsen. Gedeihen sie dagegen auf einer harten Unterlage, entstehen aus ihnen Knochenzellen. Auf das Umfeld kommt es offenbar an. Für die Kommunikation untereinander setzen die Zellen unter anderem auf lange Fortsätze, die Zytoneme. Wie Antennen strecken sich die Mikrotentakel empor und nehmen Botenstoffe auf oder setzen solche frei.

Leptin schreckt die scheinbare Kakofonie der Moleküle nicht ab – im Gegenteil. Man kann die Genetik auch nutzen, um Fragen über das Leben an sich zu beantworten, sagt sie. Ihr Ziel der Simulation einer Drosophila-Embryogenese möchte sie in den nächsten fünf Jahren verwirklichen. (Kurt de Swaaf, 8.7.2017)