Bild nicht mehr verfügbar.

Weil die eigentlich zum Schutz der Parlamentarier abgestellte Nationalgarde kaum eingriff, hatten die Demonstranten beim Eindringen ins Parlament leichtes Spiel. Die Opposition unterstellt ihr Absicht.

Foto: Reuters / Andres Martinez Casares

Caracas/Puebla – In einer neuer lichen Eskalation der Krise in Venezuela haben am Mittwoch regierungsnahe Schlägertruppen das Parlament gestürmt. Dort schossen sie um sich und verletzten fünf Parlamentarier sowie ein Dutzend Angestellte und Journalisten zum Teil schwer. Der Angriff, dem die Nationalgarde kaum Widerstand leistete, dauerte fast eine halbe Stunde, dabei wurden auch einige Menschen ausgeraubt; anschließend blockierten die Schlägertruppen die Zufahrten zum Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas.

Erst am frühen Abend konnten die Abgeordneten das Gebäude verlassen. Die internationale Gemeinschaft verurteilte den Übergriff einhellig. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro und sein Verteidigungsminister Vladimir Padrino kritisierten die Gewalt ebenfalls. Maduro sprach von "seltsamen Vorkommnissen" und ordnete eine Untersuchung an. Padrino machte die Opposition per Twitter für die Gewalt mitverantwortlich. Über Festnahmen der Verantwortlichen war zunächst nichts bekannt.

Kein Schutz für Opposition

Am frühen Morgen hatte Vizepräsident Tarek El Aissami unangemeldet in einem Salon des Parlaments die Tribüne eingenommen, vor Mitgliedern der Regierung die Unabhängigkeitsakte hochgehalten, die linke bolivarische Revolution angepriesen und das Volk dazu aufgerufen, "seinen von der Oligarchie entführten Platz einzunehmen". Bevor die Mehrzahl der Parlamentarier zur feierlichen Sitzung aus Anlass der Unabhängigkeitserklärung eingetroffen war, war er wieder weg.

Derweil versammelten sich vor dem Parlament rund 100 vermummte und mit Steinen und Stangen bewaffnete Angreifer. Sie rannten die Türen ein und stürmten in den Innenhof und die Gänge. Die Nationalgarde leistete wenig Widerstand. Erst vor wenigen Tagen hatte Parlamentspräsident Julio Borges von der bürgerlichen Opposition einen heftigen Wortwechsel mit dem Chef der Nationalgarde im Parlament, Vladimir Lugo, wegen des aggressiven Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die Parlamentarier. Dabei schrie Lugo den Parlamentspräsidenten an und stieß ihn fast zu Boden. Die Nationalgarde untersteht der Regierung und wird nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen verdächtigt, mit den Schlägertruppen zu kooperieren.

Der Kongress ist seit Dezember 2015 unter Kontrolle der bürgerlichen Opposition, was Maduro jedoch nie anerkannt hat. Er regiert seither per Dekret, während das Oberste Gericht, das er kontrolliert, sämtliche Entscheidungen des Parlaments für nichtig erklärt. Nachdem das Oberste Gericht im April auch formal das Parlament entmachten und sich selbst die gesetzgebenden Funktionen übertragen wollte, begannen die bis heute andauernden Proteste.

Inoffizielles Referendum am 16. Juli

Die von Wirtschaftskrise, Inflation und Güterknappheit geplagten Demonstranten fordern Neuwahlen; dazu ist Maduro nicht bereit. Stattdessen forciert er eine verfassungsgebende Versammlung, deren Mitglieder größtenteils von regierungsnahen Organisationen bestellt werden sollen. Die Opposition will am 16. Juli ein Plebiszit dagegen abhalten.

Umfragen zufolge sind 80 Prozent der Venezolaner gegen Maduro; er kann aber auf den Rückhalt der Militärs zählen, die sämtliche lukrativen Geschäfte – vom Import über Devisen bis zu den Rohstoffen – kontrollieren und sich dadurch bereichern.

"Ich verurteile diesen brutalen Angriff auf das Symbol der Demokratie in Venezuela. Das EU-Parlament fordert Neuwahlen", twitterte der konservative EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Der Generalsekretär der Organi sation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, der dem linken Parteienspektrum Uruguays entstammt, sprach von einer "diktatorischen Aktion"; das US-Außenamt forderte die Regierung zum sofortigen Schutz des Parlaments auf. "Wir bedauern die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, deren Zweck die Unterhöhlung der demokratischen Institutionen ist, darunter das Parlament", hieß es in einer Erklärung. (Sandra Weiss, 6.7.2017)