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"Sapere aude!" Das Motto der Aufklärung inspirierte Avelino Sala zum gleichnamigen Kunstwerk.

Foto: EPA/MARTA PEREZ

Angesichts der politischen und sozialen Entwicklungen weltweit, in der westlichen Welt, insbesondere aber in Europa, wäre es angebracht, kritisch darüber zu reflektieren, inwieweit unsere sozialen und demokratischen Strukturen, unsere Werte in Europa noch vom Geist der Aufklärung getragen sind beziehungsweise die Gefahr besteht, dass diese mehr und mehr ausgehöhlt werden oder zu verschwinden drohen.

Bei allen möglichen Gelegenheiten wird zwar betont, dass wir demokratische, von den Wertmaßstäben der Aufklärung geprägte, auf Menschenrechten beruhende, freie, offene und liberale Gesellschaften sind, gleichzeitig ist aber auch in Europa eine starke Tendenz zu autoritären, von "starken" Führungspersönlichkeiten gelenkten Gesellschaftsstrukturen zu konstatieren.

Anleitung zum selbstständigen Denken

Wenn wir uns auf die Aufklärung berufen, ist im Besonderen Immanuel Kant von Bedeutung – der geniale Philosoph der deutschen Aufklärung im 18. Jahrhundert, dessen Philosophie eine ähnliche Wende im philosophischen Denken und Diskurs bewirkte wie etwa die Erkenntnisse des Kopernikus für das Weltbild der Physik.

Kant verstand unter Aufklärung im Wesentlichen "den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen." An diese Aussagen fügte Kant in seiner Abhandlung dazu in der Dezemberausgabe 1784 der "Berlinischen Monatsschrift" den Wahlspruch und das Motto der deutschen Aufklärung an: "Sapere aude!", was in etwa "Wage zu wissen!" bedeutet und von Kant mit "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" erläutert wird. Als Gründe für diese Unmündigkeit stellte er fest, dass

"Faulheit und Feigheit dafür ursächlich sind, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat, dennoch zeit ihres Lebens unmündig bleiben und dies auch noch gerne sind. Denn es ist so bequem, unmündig zu sein. Hat man ein Buch, das für einen Verstand hat, einen Arzt, der für einen die Diät beurteilt, einen Seelsorger, der für einen Gewissen hat und so weiter, so braucht man ja nicht selbst zu denken, andere werden für einen dieses verdrießliche Geschäft schon übernehmen. So ist es für andere leicht, sich zu Vormündern dieser Menschen aufzuschwingen. Diese Vormünder sorgen auch dafür, dass die unmündigen Menschen den Schritt zur Mündigkeit außer für beschwerlich auch noch für gefährlich halten".

Einsicht und Vernunft

So weit Kants Feststellungen und Ausführungen in der zitierten Zeitschrift. Eine Anleitung und ein Appell zum selbstständigen Denken. Der Mut, den Kant fordert, ist ein Mut, sich im Denken auf die eigenen Beine zu stellen, die Eigenständigkeit des Urteils einzuüben. Das, was andere denken ist nicht unwichtig, es ist etwas, das man ernst nehmen muss, aber die letzte Entscheidung muss man vor seiner eigenen Einsicht und Vernunft treffen.

Die Frage, ob die Menschen zu seiner Zeit in einem "aufgeklärten Zeitalter lebten", verneinte Kant, aber er meinte, man lebe in einem "Zeitalter der Aufklärung". Diese Aussage ist keine Tautologie, also eine Wiederholung von bereits Gesagtem, sondern von wesentlichem – nicht näher zu erläuterndem – inhaltlichem Unterschied.

Aufgeklärte Gesellschaft – oder doch nicht?

Betrachtet man die Gegenwart, so stellt sich die Frage, ob – wie eingangs schon ausgeführt – nicht wieder verstärkt ein gesellschaftlicher Trend in Richtung dieser Unmündigkeit auszumachen ist und inwieweit die Ursachen dafür nicht in den von Kant postulierten Gründen zu suchen sind.

Sind wir noch weitgehend eine vom Geist der Aufklärung getragene und durchdrungene Gesellschaft? Leben wir immer noch in einem Zeitalter der Aufklärung, oder haben wir schon den nächsten Schritt gemacht und sind bereits eine aufgeklärte Gesellschaft? Übernehmen wir Selbstverantwortung für unsere politische, soziale, ökologische Gesellschaftsstruktur und -entwicklung, oder neigen wir dazu, diese Verantwortung weitgehend an "entscheidungsstarke" Führungspersönlichkeiten und Autoritäten abzugeben?

Demokratie und Mündigkeit

Demokratie, Denken und Handeln im Sinne der Aufklärung bedeuten natürlich oft auch Mut und Anstrengungen. Sind wir dazu bereit und willig, uns selbstverantwortlich einzubringen und politische und soziale Entwicklungen nicht willenlos primär anderen zu überlassen?

Wir sollten auf der Hut sein und uns autokratischen Entwicklungen in Europa rechtzeitig und nachhaltig entgegenstellen. Eine auf Bequemlichkeit – und vielleicht auch auf Feigheit – beruhende Überlassung und Delegierung von zu viel Macht und Entscheidungskompetenz an einzelne Personen und Gruppen ist mitunter sehr gefährlich und untergräbt à la longue immer mehr unser demokratisches System und unsere Mündigkeit. Demokratie und Mündigkeit zu verlieren, das kann ganz schnell gehen. Sie allerdings wiederzugewinnen ist extrem aufwendig und schwierig. Insofern brauchen wir wohl einen neuen Schub für ein selbstreflektiertes, mündiges Denken und Handeln im Sinne der Aufklärung des Immanuel Kant. (Gerhard Neumüller, 14.7.2017)