Der Ristna-Leuchtturm versteckt sich gut hinter wildem Gras und Nadelwäldern auf der estnischen Insel Hiiumaa.

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An den Stränden der Inseln trifft man nicht nur auf sehr feinen Sand, sondern auch auf große solitäre Steine und wilde Gräser.

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Rund die Hälfte der Fläche besteht in Estland aus Wald.

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Ein Denkmal beim Leuchtturm Tahkuna, der nur einer von vielen ist, weshalb Hiiumaa "Insel der Leuchttürme" genannt wird, erinnert noch an den Untergang der Ostseefähre Estonia 1994.

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Hier in diesem Haus habe ich die ersten neun Jahre meines Lebens verbracht und dort auf der grünen Wiese haben wir früher Erdäpfeln geerntet" erinnert sich Urmas Saarnak, während er langsamen Schrittes über "seine" Insel wandert. Sie heißt fast genauso wie er, Saarnaki, und ist nur per Kajak oder mit einem kleinen Motorboot von der Nachbarinsel Hiiumaa aus zu erreichen. Früher lebten dort rund 20 Familien in den kleinen Holzhäusern, heute stehen sie leer und fallen immer mehr in sich zusammen, bis auf einige wenige, wie beispielsweise das Haus von Urmas Großeltern, das nunmehr ein kleines Museum ist.

Die 1,4 Quadratkilometer kleine Insel ist eine von insgesamt mehr als 2.000 Inseln in Estland, von denen jedoch nur 19 bewohnt sind. "Anfang der 1970er-Jahre sind die letzten Bewohner weggezogen, denn ohne Strom und medizinische Versorgung war es kaum noch möglich zu leben", erzählt der 59-Jährige. Auch er wohnt heute in Hiiumaa.

Holz sammeln und angeln

Vergessen hat Urmas seine Insel jedoch, im Gegenteil. Gerade hat der gelernte Mechaniker mit seinem Sohn dort ein uriges Holzhaus gebaut, in dem etwa vier Personen Platz haben. Jetzt hofft er auf Touristen und auf Menschen, die dem Zivilisationslärm entfliehen wollen, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren: etwa Holz für den Herd zu sammeln oder sich in die kühle Ostsee zu stürzen. Ein kleiner Angelausflug mit Urmas ist garantiert auch noch drin, denn die Esten haben Spaß daran, andere für ihr Land und die Natur zu begeistern.

Eine knappe halbe Stunde Bootsfahrt und man ist wieder zurück in Hiiumaa, wo die Uhren einen leicht verschlafenen Rhythmus haben. Nur gut 11.000 Menschen leben auf der immerhin zweitgrößten Insel des Landes, doch ihre Häuser muss man beinahe suchen, da sie nicht, wie in herkömmlichen Dörfern üblich, zusammen an einem Ort stehen, sondern verteilt sind.

Ufoähnliches Gebilde

Auch das zweistöckige Ferienhaus Stadthaus Rose, ein charmantes Blockbohlenhaus mit nostalgischer Inneneinrichtung, liegt versteckt in der Inselhauptstadt Kärdla und bietet einen eigentümlichen Blick auf brachliegende Wiesen, einen Zaun, der im Nichts endet und einen einsturzgefährdeten Minischuppen. Die Betten sind recht schmal, trotzdem hat der estnische Präsident dort angeblich schon gut geschlafen.

Das Glaskuppelhaus von Tönis Kasemägi liegt etwas südöstlich im Örtchen Soonlepa und ist nur über einen schmalen Weg erreichbar. Es ist ein zweistöckiges, ufoähnliches Gebilde mit Solarpanelen als Außenwand. "Ich habe das Haus selber designt und mit meinem Team innerhalb von fünf Tagen aufgebaut", sagt der Unternehmer.

Ehemalige Paradeplätze

Ein stylisches High-Tech Ökohaus, nur wenige Schritte vom Meer entfernt und zugleich umgeben von Schilf, Wacholderhainen und Wiesen, mit Elchen, Rehen und Wildschweinen als Nachbarn. "Und in diesen alten Ställen werden im Sommer Konzerte stattfinden", erzählt Tönis Kasemägi, während etwa fünfzehn Autominuten entfernt gerade eine Radlergruppe in Pähkli angekommen ist, um dort eines der Ferienhäuser zu beziehen. Sie sind jetzt in der Welt von Kalle und Heli Hahndorf gelandet, die in ihrem Garten Alpakas halten und zugleich selbst gemachte Limonade, Seifen und Shampoos verkaufen. Es ist ein idyllisches Fleckchen, selbst wenn es nicht direkt am Meer liegt.

Ganz im Norden von Hiiumaa marschiert Urmas Selirand forschen Schrittes durch das ehemalige russische Militärgebiet, dessen ungepflasterte Straßen heute beliebte Rad- und Wanderwege sind. "Früher war hier Sumpfgebiet, doch die Russen haben es für die Transportwege trockengelegt, sodass überall Nadelwald entstanden ist", erzählt der sportliche Pensionist, der Spaß daran hat, Besucher zu den ehemaligen russischen Paradeplätzen oder unterirdischen Bunkern zu führen. Abenteuerlustigen weist er den Weg durch die verschlängelten neun Meter tief gelegenen Gänge.

Sehr viel Wald

Ein Denkmal beim Leuchtturm Tahkuna, der nur einer von vielen ist, weshalb Hiiumaa "Insel der Leuchttürme" genannt wird, erinnert noch an den Untergang der Ostseefähre Estonia 1994. Das Wrack liegt nur 35 Kilometer entfernt. Von Tahkuna geht es zum westlichsten Zipfel der Insel, zum herrlichen Strand von Ristna. Dahinter liegen anstelle fein abgegrenzter landwirtschaftlicher Flächen oder in Reih und Glied gepflanzter Bäume naturbelassene Wiesen, verstreute Büsche oder Wälder – rund die Hälfte der Fläche besteht in Estland aus Wald.

An den Stränden der Inseln trifft man nicht nur auf sehr feinen Sand, sondern auch auf große solitäre Steine und wilde Gräser. Es sind naturbelassene Eilande, auf denen es weder große Bettenburgen noch Strandkorbkolonien gibt. Die vielen Häfen sind reine Anlegestellen und keine große Anlagen, jener von Orjaku auf der Halbinsel Kassari ist ausgesprochen idyllisch mit seinen charmanten Holzhäusern, dem Bootsverleih und einem Steg, über den man am Rand des Wassers durch das Schilf wandern kann.

Einblick in die Speisekammer

Etwa 130 Kilometer und knapp zwei Stunden Autofahrt von Estlands Hauptstadt Tallinn entfernt, liegt der Hafen Virtsu, von wo aus man mit der Fähre auf die kleine Insel Muhu und Estlands größte Insel Saaremaa gelangt. Auf Letzterer wurde in der einzigen Stadt der Insel, Kuressare, vor knapp 180 Jahren das erste Kurbad eröffnet, weshalb die Stadt heute mit ihren Schlammbädern und mittlerweile sieben Spa-Hotels zum Kurort geworden ist. Zudem bietet die mittelalterliche Bischofsburg mit dem dazugehörigen Museum Einblicke in die Geschichte der Insel und Ausblicke auf den Burggraben und die Ostsee.

Ganz in der Nähe, im 400 Seelen-Dorf Nasva, gewährt Tiina Mai nach telefonischer Voranmeldung einen Einblick in ihre Speisekammer, die vor frischem und geräuchterem Fisch überquillt. "Mein Mann und Sohn gehen fischen, ich bereite die Fische nach alten Traditionen zu", erzählt die Wirtin des Tihemetsa Kalu, das sich den Slow-Food-Kriterien verpflichtet fühlt.

Kleine Seevogelwelt

Andrus Ausmeel schaut auf der Insel Vilsandi mit seinem Fernrohr aufs Meer hinaus, versucht den Vögeln zu folgen, so wie er es schon als kleiner Bub immer getan hat. Sein Vater war zu Sowjetzeiten Direktor des Nationalparks Vilsandi, des ältesten Nationalparks des Landes, und lebte damals dort. Insgesamt umfasst der Park rund 150 Inseln. Wegen seiner Seevogelwelt und der besonderen Flora und Fauna ist die westlichste bewohnte Insel Estlands ein beliebtes Ausflugsziel. Manche waten im Sommer von der Halbinsel Kuusnõmme aus durchs Meer dorthin, andere lassen sich für 50 Euro pro Strecke von einem privaten Motorbootdienst nach Vilsandi fahren. Rund 10.000 Menschen besuchen den Nationalpark pro Jahr, viele von ihnen haben sich ins Gästebuch von Andrus Ausmeel eingetragen und schwärmen von der Insel.

Ausmeels Geburtshaus ist heute ein kleines Museum, in dem nur ein paar Fotos und ausgestopfte Tiere die reichen Bestände Natur konterkarieren. "Ranger gibt es nicht mehr, heute müssen wir Freiwillige für den Schutz der Insel sorgen", stellt der 52-Jährige fest. Der studierte Biologe betreibt auf Saaremaa einen Antiquitätenhandel und ist nur noch manchmal an den Wochenenden auf Vilsandi, wo es auch ein paar Gästezimmer gibt.

Die Halbinsel Harilaid, die wiederum ganz im Westen von Saaremaa liegt, gehört ebenfalls zum gut 180 Quadratkilometer großen Nationalpark Vilsandi. Wer es bis dorthin geschafft hat und einem alten Leuchtturm, der dort wie der Schiefe Turm von Pisa steht, aber mitten im Meer, möchte nur noch eines: Dort bleiben, Daumen halten, dass er nicht umfällt und warten, bis die Sonne allmählich in der Ostsee versinkt. (Sibylle Meyer-Bretschneider, 23.7.2017)