Vom Zinnsoldaten bis zu "Call of Duty WW2" (Bild oben), dem angesagtesten Computerkriegsspiel der Gegenwart: Angesichts der zunehmenden Gamifizierung ist das Thema aktueller denn je.

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Wann immer heute ein Jugendlicher scheinbar grundlos an einer Schule Amok läuft, wird danach das Kinderzimmer auf der Suche nach medialen Gewalttriggern auf den Kopf gestellt. Hoch im Kurs zur Motivergründung stehen Ego-Shooter. Die Ballerspiele, so die trivialpsychologische Unterstellung, belohnen aggressives Verhalten, Empathiemangel und Asozialität. Sie verwischen den Unterschied zwischen Fiktion und Realität und feiern den maskulinistischen Kult der Tat.

Auf ähnliche Effekte setzen auch Rekrutierungsspiele für künftiges militärisches Personal. Sie zeigen, dass der Unterschied zwischen den analogen Spielen, die nach ihren eigenen Regeln Parallelwelten erfinden, und den "gamifizierten", immer komplexer gestalteten Simulationen realer Kriegs- und Gewaltszenarien vor dem technologischen Gleichmacher Computerbildschirm zu verschwinden droht. Tatsächlich steuern Soldaten auf der Couch mit Joysticks Drohnen in tausende Kilometer entfernte Ziele, während ihre Vorgesetzten die Erfolge protokollieren. Umgekehrt suchen Gamer in martialischen Szenarien nicht mehr zwangsläufig Mitspieler oder auch nur Beobachter. Manchmal reicht ihnen der einsame Kitzel der Immersion selbst, der im geilen Stress der kriegerischer Action lockt.

"Kältekammern der Geselligkeit"

Dabei galten die analogen Kriegsspiele seit jeher als "Kältekammern der Geselligkeit", wie es Ernst Strouhal, Herausgeber des Sammelbands Agon und Ares. Der Krieg und die Spiele formuliert. Hervorgegangen aus einer kulturwissenschaftlichen Tagung zum Thema, erkunden die Beiträge die sich immer mehr diversifizierende Geschichte der Brett-, Karten- oder Computerspiele. Das Kriegsspiel wird hier weder didaktisch denunziert noch zum reinen Ausdruck von Kriegsbegeisterung oder zu einem Vehikel der Kriegspropaganda reduziert – auch wenn Bilderbücher wie Wir spielen Weltkrieg! nur vor der Hintergrund patriotischer Aufwallungen verständlich sind, die private Spielehersteller in ihrer Kundschaft zu verspüren vermeinen.

Andererseits dürfen Spiele mit mörderischem ideologischem Hintergrund wie Atomic Bomb (USA 1945) oder Juden raus (Deutschland 1938) nicht als Ausdruck eines unschuldigen Willens zum Eskapismus verharmlost werden. Der auch als begeisterter Schachspieler und -theoretiker bekannte Herausgeber versteht das Kriegsspiel jedenfalls als "Überlaufgefäß für bereits vorhandene chauvinistische Affekte". Um vorschnellen Interpretationen über Ziel und Funktion der oft sehr fantasie- und detailreichen Kriegsspiele vorzubeugen, wird in dem Band des Öfteren an die Einsichten des kanonischen Kulturhistorikers Johan Huizinga erinnert. In dessen Lesart begründet das Spiel durch seinen "Zauberzirkel" eine eigene Welt. In der muss mit heiligem Ernst an die Illusion des ludischen Universums geglaubt werden, sonst macht sogar Mensch ärgere Dich nicht keinen Spaß. Nach Freud ist das Spiel daher nicht das Gegenteil des Ernsts, sondern das Gegenteil der Wirklichkeit. Gilt dies auch für das Kriegsspiel?

Der Spielverderber

Das erste Brettspiel im antiken Griechenland im fünften vorchristlichen Jahrhundert war dem idealisierten Prinzip des Wettstreits zweier Kontrahenten auf einem begrenzten Schlacht- bzw. Spielfeld verpflichtet, in dem die Lust am Krieg als Duell von Spielfiguren symbolisiert wurde – ähnlich wie im Strategieklassiker Schach. Deutschland spielte im 19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung des modernen Kriegsspiels, das sich zunächst wie ein Zeitvertreib für die Generalität im Offizierskasino ausnahm.

Später wurden aber aus den barock wuchernden Belagerungsspielen Strategiespiele der instrumentellen Vernunft, die auf Erprobung oder Belehrung setzten und so in die funktionale Nähe von Manövern rückten. Sogar der kriegstrunkene Modernist Arnold Schönberg entwickelte um 1920 eine DIY-Version namens Koalitionsschach, das neue Waffentechnologien wie das U-Boot oder das Maschinengewehr in Figurenvermögen auf dem Feld übersetzte. Das so mit Zeitgeschichte angereicherte Koalitionsschach illustriert einen Trend, der von der symbolischen Abstraktion in Form des Wettkampfs hin zur Konkretion in Form medialer Wirklichkeitssimulationen führt.

Bildstörungen und moralische Selbstzweifel

Agon und Ares verfolgt diese Verunheimlichung des konstitutiven Freiheitsmoments im Spiel. Neben Ausflügen in die japanische oder sowjetische Kriegsspielhistorie rekonstruiert der Band die Professionalisierung der Planspiele der Deutschen Wehrmacht, widmet sich den von der Populärkultur begeistert ins Bild gesetzten War-Games im Kalten Krieg und würdigt das postheroische Antikriegs-Shooter-Game Spec Ops. Das Spiel steuert mit aufflackernden Bildstörungen in der Action moralische Selbstzweifel des Spielers an und versteht sich als subversive Antwort auf die Trainingsspiele des militärisch-spieleindustriellen Komplexes wie America's Army.

Der verstorbene Künstler und Filmemacher Harun Farocki hat die Konvergenz von gamifizierter militärischer Wirklichkeit und realistischer Kriegsspielentwicklung (in oft verschleierter Engführung mit dem Militär) in der Videoinstallationsreihe Ernste Spiele ins Bild gesetzt. Darin ist der immer schon den Krieg mitbestimmende Bruch mit den bislang geltenden Regeln seiner Führung im Moment seiner Erneuerung bereits mitgedacht. Der asymmetrische, frontenlose Krieg des 21. Jahrhunderts hat zur Regel, dass man damit rechnen muss, dass sich der Gegner nicht mehr an bislang akzeptierte Regeln hält. Der Spielverderber gehört so gesehen zum zeitgemäßen Kriegsspiel. Dennoch gibt es vielleicht eine konstitutive Regel für die Kriegsspiele, die vom Krieg heute handeln wollen. Sie scheint in der Einhegung des Darstellbaren durch den Bildschirm zu liegen.

Am Bildschirm lässt sich sogar der per definitionem endlose, grenzenlose und regellose Krieg gegen den Terror als Abenteuer im Feindesland ohne Uniformen rahmen – aber natürlich nicht adäquat darstellen. (Thomas Edlinger, 8.7.2017)