Die britische Wirtschaft macht der Regierung Druck: Ihre Interessen beim Austritt aus der Europäischen Union wögen schwerer als die ideologische Verbohrtheit der EU-Feinde.

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London – In Großbritannien mehren sich die Anzeichen für eine Aufweichung der bisher verfolgten harten Brexit-Strategie. Seit der vorgezogenen Unterhauswahl, die Theresa Mays Position empfindlich schwächte, misst die Premierministerin den Interessen von Handel und Industrie, nicht zuletzt der wichtigen Finanzbranche, größere Bedeutung bei. Bei einem Treffen mit Brexit-Chefunterhändler David Davis betonten Wirtschaftsvertreter am Freitag die Bedeutung mehrjähriger Übergangsfristen. "Wir müssen realistisch sein", mahnte Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI, "die Details unseres neuen Verhältnisses zur EU können unmöglich bis März 2019 klar sein."

Die Begegnung mit Industriellen und Verbandsvertretern symbolisiert den neuen Brexit-Realismus in Londoner Regierungsstuben. In der Downing Street heißt es zwar, man habe die Interessen der Wirtschaft stets ernst genommen, es gehe jetzt um eine "Intensivierung" der Kontakte. In Wirklichkeit aber interpretierten May und ihre Berater das Brexit-Votum vom Juni 2016 auch als Aufschrei gegen Big Business und setzten deshalb auf Distanz zur einschlägigen Lobby. Abwertend sprach die konservative Parteichefin über international tätige Manager und Banker als vaterlandslose Gesellen: "Wer Weltbürger sein will, gehört nirgendwo richtig dazu."

Flexibel bei Kontrollen

Der für die Tories katastrophale Wahlausgang hat all jenen Aufwind gegeben, die Mays harten Brexit-Kurs mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion für falsch halten. Dazu gehören Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark. Aber sogar der eingefleischte EU-Feind Davis signalisiert neuerdings Kompromissbereitschaft. In jüngsten Medienauftritten deutete der Minister an, er sei bei der Einwanderungskontrolle flexibel – flexibler jedenfalls als die Regierungschefin. Diese machte sich im vergangenen Wahlkampf erneut das Ziel einer Netto-Immigration von unter 100.000 Menschen pro Jahr zu eigen, an dem die Tories seit 2010 scheitern. Zuletzt lag die Nettoeinwanderung bei 236.000.

Davis' erst kürzlich aus dem Amt geschiedener Büroleiter James Chapman bezeichnet Mays Ablehnung des EuGH als Hindernis für konstruktive Verhandlungen und dürfte damit die Stimmung seines langjährigen Chefs widerspiegeln. Tatsächlich drängen Wissenschafter und Beamte darauf, dass die Insel Mitglied bei supranationalen Behörden wie der Nuklearfachstelle Euratom sowie EU-Agenturen wie der bisher in London ansässigen Medizinbehörde EMA bleibt. Das geht aber nur, wenn die Schlichtung zukünftiger Streitfälle geklärt ist.

Alarm unter Industriellen

Ganz vom Kabinettstisch scheint Mays noch vor Monatsfrist häufig wiederholter Slogan zu sein, wonach "kein Deal besser als ein schlechter Deal" sei. Die Idee sorgte auf dem Kontinent für Verwunderung, bei der britischen Industrie für Alarm. "Unternehmen im Ungewissen zu lassen riskiert massiven wirtschaftlichen Schaden", urteilt Terry Scuoler vom Firmenfachverband EEF. Einen Beweis dafür lieferte jüngst die fürs Königreich eminent wichtige Autoindustrie: Dort gingen Investitionen nach Angaben des Fachverbandes SMMT im Vorjahr um drei Viertel zurück.

Ohnehin geben die Wirtschaftsdaten keinen Anlass zur Freude. Zwar nahm die Wirtschaftsleistung 2016 um 1,8 Prozent zu; die Prognose der Bank of England für 2017 (1,9) dürfte sich aber als zu optimistisch herausstellen. Jedenfalls lag die Insel im ersten Quartal 2017 mit Italien auf dem letzten Platz der G7-Staaten, der Zuwachs betrug lediglich 0,2 Prozent. Schon heute spüren viele Briten einen Rückgang ihres Lebensstandards: Die moderate Zunahme der Löhne wird durch die hohe Inflation von zuletzt 2,9 Prozent mehr als ausgeglichen. Die Konsumenten haben der Kreditkartenfirma Visa zufolge im Mai erstmals seit 2013 weniger (0,8 Prozent) ausgegeben als im Vormonat. Das lässt für die Konjunktur wenig Gutes ahnen: Bisher gaben die hochverschuldeten Privathaushalte trotz der Brexit-Unsicherheit unverdrossen weiter Geld aus. (Sebastian Borger aus London, 8.7.2017)