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Autor Peter Härtling wog und prüfte biografisches Material.

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Rüsselsheim – "Literatur trägt nach, sie eilt selten voran", schrieb er einmal. Dass das schwierige Leben jenes ist, aus dem sich die meisten Erfahrungen gewinnen lassen, wusste Peter Härtling wohl. Und er, ohne Schuld zu einem solchen gekommen, sah dies als Aufgabe. Sechs Jahrzehnte literarischen Schaffens, die am Montag nach kurzer, schwerer Krankheit ein Ende fanden, zeugen davon. Aber nicht nur davon. Denn Härtlings Werk ist so vielfarbig wie nur selten eines.

Der eine Strang seiner Bücher wächst direkt aus der eigenen Biografie: 1933 in Chemnitz geboren, prägte seine Kinderjahre die Flucht vor dem Krieg. Sie führte Härtlings Familie zwar ins niederösterreichische Zwettl, aber nicht in Sicherheit. Härtlings Vater sollte dort in sowjetischer Kriegsgefangenschaft den Tod finden, seine Mutter von Soldaten vergewaltigt werden. Zwar übersiedelte sie mit dem Sohn nach Kriegsende noch zurück nach Deutschland, doch nach ihrem Selbstmord 1946 wuchs Härtling bei der Großmutter und bei Tanten auf.

Die Zeit in Zwettl als auch nachfolgende Jahre sollte er sich später in autobiografischen Bänden wie Herzwand wieder vor Augen rufen. Über den familiären Schmerz hinaus arbeitete Härtling allerdings auch an einer Aufarbeitung der NS- und Nachkriegszeit (u. a. Im Schein des Kometen).

Doch vorerst besuchte Härtling das Gymnasium im schwäbischen Nürtingen, wo er sein erstes Leben als Journalist begann, daneben Gedichtbände veröffentlichte, den ersten im Alter von 20 Jahren. "Musikalische Konzentration" attestierte man ihnen später. 1967 wurde Härtling schließlich Cheflektor beim S.-Fischer-Verlag, saß sogar in dessen Geschäftsleitung. Bis er sich 1974 zurückzog und für ein Dasein als freier Autor entschied.

Nun begann er, gegensätzlich zu seiner Aufarbeitung der Nazi-Zeit, auch Romanbiografien über Hölderlin, Schubert, Schumann, Mozart oder E. T. A. Hoffmann zu schreiben. An dieser Arbeit reizten ihn ebenso der Widerstand, den das Material bot, als auch die Herausforderung an die eigene Fantasie. Besonders faszinierend wurden die Bücher dadurch, dass Härtling darin die Nähe von Figuren der Romantik und des frühen 19. Jahrhunderts zum Heute suchte. Eine solche beanspruchte er auch mit seinem vierten literarischen Standbein. Aus "Wut" habe er angefangen, Kinderbücher zu schreiben, gestand er einmal. Nirgendwo hätte er in denen, die er seinen Kindern vorzulesen begonnen habe, nämlich Kinder gefunden, wie er sie kenne. Pferde? Hanni und Nanni? Das war nicht die wirkliche Welt.

Die Zeit stand gerade günstig für progressive Kinderliteratur, vom Hirbel oder Ben und Anna erzählte er daraufhin selbst, von Kinderheim, Arbeitslosigkeit, Behinderung oder dem Verlust der Eltern. Ein Happy End musste es in seinen Geschichten nicht geben, auch Ausweglosigkeit könne ihre Leser einen Ausweg ahnen lassen, meinte Härtling dazu.

Training für die Poesie

Preise und Fanpost erhielt er dafür gleichermaßen und bis zuletzt. Erst 2016 erschien – neueste gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmend – Djadi, Flüchtlingsjunge. Für Kinder zu schreiben, das sah Härtling auch als Training für seine Bücher für Erwachsene. Denn für Kinder müsse man konkreter schreiben, dürfe keinen Satz lang abschweifen.

Zurück also zu seinen Büchern für große Leser. Leben lernen (2003) und Die Lebenslinie fassten zu Anfang des Jahrtausends noch einmal das Leben ihres Autors. Zuletzt erschienen ist 2015 Verdi – Ein Roman in neun Fantasien.

Nachtragend im besten Sinn, so war Peter Härtlings Literatur: ein Erinnern als Auseinandersetzung mit Geschichte und mit der politischen Vergangenheit. Härtling wurde 83 Jahre alt. (Michael Wurmitzer, 10.7.2017)