Auf einer Linzer Wiese zwischen Lentos-Museum und Brucknerhaus: Die kanadischen Arcade Fire legen ihre aktuellen Auftritte zwischen Heilsarmeekapelle und Discokugel der 1970er-Jahre an.

Foto: Tom Mesic

Linz – Eines kann man ganz gelassen sagen: Das Ahoi!-Festival in Linz, das mit dem Untertitel "The Full Hit of Summer" wirbt, ist das mit Abstand angenehmste und bestorganisierte Open-Air-Festival Österreichs. Kaum zu glauben nach all den Jahren, die man im Sommer zwangsweise mit Musik ohne Dach über dem Kopf und bei Tageslicht in endlosen Warteschlangen zwischen Security am Eintritt, Langos- und Getränkeständen sowie hormonell durcheinandergebeutelten Jungstieren kurz vor einer rituellen Bierstampede verbringen musste.

Hier in Linz funktioniert alles stressfrei. Und für eine durch einen etwaigen Gachen bedingte emotionale männliche Überhitzung gibt es Gratiswasser und hinten auf der Wiese genügend Bäume mit Schatten.

Die abschüssige Wiese zwischen Lentos und Brucknerhaus bietet hinter der Bühne außerdem ein sagenhaftes Panorama mit der Donau, dem Pöstlingberg, sich dezent dräuend im Hintergrund beim Sonnenuntergang haltenden Gewitterwolken sowie dem quietschbunt von Urfahr herüberleuchtenden Ars-Electronica-Center. Alles ist wirklich toll.

Das darf man aber jetzt nicht weitersagen. Eigentlich sind jetzt beim zum zweiten Mal stattfindenden Ahoi!-Festival dank des heurigen Headliners Arcade Fire eh schon genug Leute gekommen. Rein von der Lebenserfahrung her sind mit 8.000 netten Menschen die heimischen Kapazitäten an Zivilisiertheit und Freundlichkeit auch gut ausgeschöpft.

Eine wichtige, wissenschaftlich belegte Erkenntnis sagt übrigens, dass man am Tag mindestens drei Minuten lang lachen sollte. Das stärkt nicht nur das Immunsystem, sondern hebt interessanterweise auch die Stimmung. Wenn ein Tag wirklich schlecht verläuft und man wenig zu lachen hat, sollte man versuchen, mindestens 60 Sekunden am Stück zähnebleckend durchzulächeln. Einfach so. Sieht blöd aus, drückt aber auf einen Nerv zwischen Nase und Stirn, der sofort Glücksimpulse aussendet und den Beginn des Weltfriedens einläutet. Freunde, das ist eine Tatsache!

Hymnische Refrains

Arcade Fire aus Kanada funktionieren in Kombination mit dieser Praxis sowie lautem Mitsingen ihrer lautmalerischen, zum Himmel hoch jauchzenden Wuu-hiee-uuu- und Weee-oooh-weee-Refrains und gewaltfreiem Tanzen als zusätzlicher Botenstoff. Mit dem wird die gute Laune endgültig dingfest gemacht.

Das ständig zwischen den Instrumenten wechselnde und perfekt eingespielte zehnköpfige Bandkollektiv um das Ehepaar Win Butler und Regine Chassagne startet nach Sonnenuntergang und dem fröhlich zwischen Kinderliedmelodie und sensiblem Krach mäandernden Instrumentalrock der texanischen Band Explosions In The Sky.

Arcade Fire beginnen mit kräftig durchgestrampften Gitarren und diversem Trommelwerk, wie seit Mitte der Nullerjahre bewährt, ihren Auftritt wie eine zu allem entschlossene Heilsarmeekapelle, die missionierend über ein Branntweinlokal herfällt: "Wake up!" Ein Weckruf, der mit einem alten Hollywood-Motto während der nächsten eindreiviertel Stunden hin zur Ekstase geführt werden wird: "Starte mit einem Höhepunkt und beginne dann, dich zu steigern."

Arcade Fire zeigen uns nach hymnischem, ständig nach vorne drängendem und nach Erlösung bettelndem Indierock mit Sendungsbewusstsein und dem strengen Predigerblick Win Butlers das Licht. Das Licht kommt von einer Discokugel, unter der Ende der 1970er-Jahre schon Abba, Blondie und Donna Summer tanzten.

Die Inhalte dieser auf größtmöglicher emotionaler Überwältigung beruhenden Werkschau mögen von traumatischer Vorstadtjugend handeln, vom verhassten Elternhaus, dem grausamen Vater, Selbstmordgedanken oder gleichgültigen Nachbarn. Egal, woran die Seele leidet, der Körper fordert trotzdem Endorphine ein.

Die neue, Richtung altes Schwedengold von Abba schielende Single mit dem bescheidenen Titel Everything Now befeuerte die euphorische Stimmung auf und vor der Bühne. Über Here Comes The Night Time, Neon Bible, Afterlife sowie Neighborhood #3 und Rebellion (Lies) als Zugaben kann diese beibehalten werden. Frenetischer Jubel. Arcade Fire, die beste Liveband der Welt. Jeder Mensch braucht eine Kirche. Unsere soll Disco heißen. (Christian Schachinger, 12.7.2017)