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Dieses Boot wurde vergangenen März 14 Meilen vor der libyschen Küsten entdeckt, eine Hilfsorganisation konnte alle Migranten an Bord retten und nach Italien bringen.

Foto: AP / Santi Palacios

Rom – Die beiden Fälle, über die der Europäischen Gerichtshof am 26. Juli zu entscheiden hat, betreffen einen syrischen Flüchtling und zwei afghanische Frauen, die im Jahr 2015 – zusammen mit einer Million weiteren Flüchtlingen, Vertriebenen und Migranten – über die sogenannte Balkanroute nach Europa gelangt sind. Der Syrer hatte in Slowenien ein Asylgesuch gestellt, die beiden Afghaninnen in Österreich. Sowohl Ljubljana als auch Wien weigerten sich, auf die Gesuche einzutreten: Die Flüchtlinge seien nicht bei ihnen in die EU eingereist, sondern über Griechenland und Kroatien. Und laut dem Dublin-Abkommen sei derjenige EU-Staat für die Aufnahme und das Asylverfahren zuständig, in dem der Antragsteller erstmals europäischen Boden betreten hat.

Situation nicht bewältigbar

Das trifft zwar zu – aber vielleicht nicht mehr lange. Denn die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, die Britin Eleanor Sharpston, hat in einem Gutachten zuhanden des Gerichts klargestellt, dass durchaus Ausnahmen von der gemeinsamen EU-Asylpraxis zulässig seien. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn Länder mit einer EU-Außengrenze mit "außergewöhnlich hohen Zahlen von Asylwerbern" konfrontiert seien. Dann bestehe nämlich das Risiko, dass sie nicht in der Lage seien, die Situation zu bewältigen und ihre EU-rechtlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen bei der Aufnahme und Versorgung einzuhalten. Griechenland und Kroatien hätten bei der Flüchtlingswelle über den Balkan unmöglich alle Fälle der Ankommenden alleine prüfen können, betont Sharpston in ihrem Gutachten.

Staaten haben Einreise aktiv erleichtert

Die Generalanwältin legt ihren Finger noch auf einen weiteren wunden Punkt: "Dublin" regelt nur die Zuständigkeit für illegal eingereiste Flüchtlinge und Migranten. Der "Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen", den Europa im Jahr 2015 auf der Balkanroute erlebt habe, könne aber nicht als illegaler Grenzübertritt gewertet werden, da mehrere EU-Mitgliedsstaaten die Ein- und Durchreise in ihrem Hoheitsgebiet nicht nur erlaubt, sondern zum Teil aktiv erleichtert hätten. Der Syrer und die Afghaninnen seien zwar nicht wirklich legal, aber auch nicht illegal in die EU eingereist, betont Sharpston. Die Dublin-Verordnung sei "schlicht nicht für solche außergewöhnlichen Umstände gedacht gewesen".

Zuständig für die Aufnahme und das Asylverfahren wäre laut der Generalanwältin in derartigen Situationen nicht das Land, in dem der Antragsteller in Europa angekommen ist, sondern das Land, wo er erstmals ein Asylgesuch gestellt hat. Sollten die Europarichter dieser Argumentation folgen, würde also das zentrale Dublin-Prinzip außer Kraft gesetzt.

Doch Sharpston ist in diesem Punkt unmissverständlich: In Situationen wie 2015 würde eine enge Auslegung von "Dublin" von vornherein die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU festlegen. Darauf ziele das Abkommen jedoch nicht ab. In der Tat bestand das wichtigste Ziel der Dublin-Verordnung ursprünglich darin, das Stellen mehrerer Asylgesuche in verschiedenen Ländern und damit den "Asyltourismus" zu unterbinden. Der Zweck war keineswegs, den EU-Mittelmeeranrainern die gesamten Flüchtlings- und Migrationsströme aus dem Nahen Osten und Afrika aufzubürden, wie es heute de facto geschieht.

Heuer 200.000 Migranten in Italien erwartet

Mit großer Hoffnung blickt vor allem Italien dem EuGH-Urteil entgegen. Seit der Schließung der Balkanroute ist es wieder das Land, in dem mit Abstand die meisten Flüchtlinge und Migranten ankommen: 170.000 waren es im vergangenen Jahr, heuer rechnet man mit 200.000 oder mehr. Laut "Dublin" ist ausschließlich Italien für die Aufnahme und die Behandlung der Asylgesuche zuständig, was die Behörden zunehmend überfordert und von der Bevölkerung als vollkommen absurd und ungerecht empfunden wird.

Die italienische Regierung hat deshalb eine Stellungnahme an den EuGH geschickt, in der die Argumentation von Generalanwältin Sharpston um einige spezifisch italienische Argumente erweitert werden. Rom konzentriert sich dabei insbesondere auf die "illegale Einreise" und betont, dass die Flüchtlinge und Migranten, die im Rahmen der "humanitären Operationen" der italienischen Küstenwache und der Marine vor dem sicheren Tod gerettet würden, ebenfalls nicht als illegal eingereiste Personen eingestuft werden könnten und damit nicht vom Dublin-Abkommen erfasst würden. Dass die Flüchtlinge sicher an Land gebracht würden, sei letztlich "eine Verpflichtung aus der Genfer Menschenrechtskonvention".

Empfehlung nicht bindend

Die Empfehlungen und Anträge der Generalanwältin sind für die Richter des EuGH nicht bindend – in vielen Fällen folgen sie jedoch der Einschätzung der Generalanwälte. Für Benedetto Della Vedova, Staatssekretär im italienischen Außenministerium, ist jedenfalls klar: "Wenn sich das Prinzip durchsetzt, dass nicht jede Einreise über das Mittelmeer illegal ist und dass die Flüchtlinge selber entscheiden können, in welchem Land sie ihr Asylgesuch stellen, dann eröffnet das gute Perspektiven für eine vernünftige Revision des Dublin-Abkommens." Vernünftig und zudem gerecht wäre zum Beispiel eine Quotenregelung bei der Aufnahme von Flüchtlingen, bei der die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft jedes EU-Landes berücksichtigt würde. (Dominik Straub, 13.7.2017)