Jubel in der Putschnacht auf einer von Istanbuls Bosporusbrücken: Erstmals siegt das türkische Volk über seine putschende Armee. Ein "Geschenk Gottes", sagt der Staatschef.

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Die Massenverhaftungen dauern an: 118.000 Menschen sind in der Türkei bisher als angebliche Putschisten und Terroristen festgenommen worden, 56.000 von ihnen blieben im Gefängnis.

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Ankara – In der neuen Türkei ist kein Platz mehr für sie. Nächsten Monat schon ist sie weg, wie vielleicht tausend andere vor ihr. Diese Woche inszenieren der türkische Staatschef und seine Regierung den ersten Jahrestag des Putschs, den das Volk niederschlug. Doch Sema Palay schaut längst keine Nachrichten mehr. "Es macht mich zu wütend", sagt die 27-jährige Frau. In Kalifornien wird ihr neues Leben beginnen.

Die Flucht der Akademiker, der jungen Manager, des liberal gesonnenen Teils der türkischen Gesellschaft ist eine der gravierenden Folgen jener Putschnacht vom 15. Juli 2016, die doch den ersten Sieg der Türken über ihre Armee markieren sollte, die Festigung der Demokratie, mit dem Leben bezahlt. 248 Menschen kommen am 15. Juli um – von Panzern überrollt, erschossen, aus der Luft bombardiert. Scheinbar im Handumdrehen wird jedoch etwas anderes daraus. Ein "Geschenk Gottes" nennt Tayyip Erdoğan diesen Staatsstreich am Tag danach. Er verhängt den Ausnahmezustand und regiert seither per Dekret.

"Demokratiewache"

Die Anhänger des autoritären Präsidenten strömen nun abends wieder auf die Plätze der Großstädte wie damals vor einem Jahr. Sie halten "Demokratiewache", sie nehmen die Sache selbst in die Hand, so glauben sie zumindest. Sie rufen nach der Todesstrafe. Das Heer der Feinde ist nur gewachsen, wird ihnen gesagt.

Endlos die Zahl der Verschwörer im Innern, infam der Verrat des Auslands, das Putschisten und Terroristen beschütze. Mehr als 50.000 sitzen im Gefängnis, jeden Tag kommen neue dazu. Während die Konservativ-Religiösen auf der Straße Erdoğans Regime bewachen, wandern die anderen aus. Man hört es beim Abendessen mit türkischen Freunden, man merkt es an den E-Mails von Bekannten, die plötzlich aus anderen Ländern kommen.

Der akademische Tod

Sema Palay, die junge Juristin, hat ein Stipendium erhalten. Sie wird ihre Doktorarbeit an einer Universität in Kalifornien zu Ende schreiben und dann dort weiterarbeiten. Humanitäres Völkerrecht und Pressefreiheit ist ihr Gebiet: derzeit eine Garantie für den akademischen Tod. "Ich kann praktisch nichts mehr publizieren. Nicht einmal in einem juristischen Fachmagazin", sagt sie.

Zwei von Sema Palays Professoren an der Istanbuler Galatasaray-Universität sind nach dem Putsch entlassen worden: Niemand traut sich, die beiden anzustellen. "Es ist die Richtung, die ich wohl auch nähme", stellt die junge Türkin fest. Sie will sich nicht verbiegen, deshalb muss sie nun weg. Palay heißt nicht Palay. Es braucht nicht viel, um heute in der Türkei festgenommen zu werden.

Braindrain

Noch ist der Braindrain seit dem Putsch, die Abwanderung der Intellektuellen und der Führungskräfte aus Erdogans Türkei, etwas Anekdotenhaftes ohne gesicherte Statistik. Dass die Massenentlassungen angeblicher Verschwörer und Terrorunterstützer an den Universitäten und Kliniken eine Lücke gerissen haben müssen, ist gleichwohl klar. Durchschnittlich um 28 Prozent soll die Zahl der Veröffentlichungen türkischer Wissenschafter in diesem Jahr zurückgegangen sein, so heißt es in einer Studie, die im Juni erschien. In den Sozialwissenschaften und der Medizin sind die Ausfälle noch zahlreicher.

Ein neues Nachrichtenportal mit dem Namen Freedom for Academia hat die Studie verbreitet; man darf annehmen, dass es von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen betrieben wird, ebenso wie Turkey purge oder das Stockholm Center for Freedom, die beide den Fortgang der Massensäuberungen in der Türkei protokollieren.

Rätselhafter Prediger

Seinen ehemaligen politischen Verbündeten, den in den USA nach wie vor im Exil lebenden Gülen, hat Erdoğan zwar zum Erzfeind erklärt. Dass der rätselhafte 76-jährige Prediger aber den Putsch organisiert haben soll, bezweifeln westliche Geheimdienste. Die US-Regierung macht auch keine Anstalten, Gülen auszuliefern, so sehr Erdoğan auch drängt.

Die Beweise für die Verantwortung der "Fethullah-Terrororganisation" oder FETÖ, wie sie in der Türkei nun offiziell genannt wird, sind offensichtlich so dünn, die Ungereimtheiten dieses vereitelten Staatsstreichs so groß, dass selbst der türkische Justizminister nun nach einem Jahr einräumt: "Ich habe nie gedacht, dass FETÖ allein agiert hat."

"Brücke der Märtyrer des 15. Juli"

Auf der asiatischen Seite der Bosporusbrücke in Istanbul, die nun "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" heißt, steht ein Denkmal – gerade rechtzeitig fertig geworden für die Gedenkfeiern diese Woche. 24 Stunden lang, von Freitag bis Samstag, werden vor dem weißen Kubus von Erdoğans neo-osmanischen Hofarchitekten Hilmi Senalp Gebete gelesen. Der Staatschef wird selbst dabei sein. Die Namen der 248 Opfer des Putschs sind in dem Denkmal eingraviert. Ihr Tod ebnete Tayyip Erdoğan den Weg zur weithin uneingeschränkten Alleinherrschaft. 51,41 Prozent der Türken sagten beim Referendum im vergangenen April Ja zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie – das ergab die offizielle Auszählung im Ausnahmezustand.

Die Massenverhaftungen dauern an: 118.000 Menschen sind in der Türkei bisher als angebliche Putschisten und Terroristen festgenommen worden, 56.000 von ihnen blieben im Gefängnis. (Markus Bernath, 14.7.2017)