Liat Fassberg: "Wie wird man eine Figur, definiert durch die Sichtweisen der anderen?"

Foto: Robert Newald

STANDARD: Vielsprachigkeit ist zentral in Ihrem Stück. Sie wurden in Jerusalem geboren, schreiben jetzt auf Deutsch. Mit welchen Sprachen sind Sie aufgewachsen bzw. was ist Ihre Muttersprache?

Fassberg: Hebräisch und Englisch. Wir wohnten zur Zeit meiner Einschulung in den USA, das war prägend. Mit meiner Mutter, die aus Südafrika stammt, habe ich als Kind viel Englisch gesprochen.

STANDARD: Sie haben also zwei Muttersprachen?

Fassberg: Heute würde ich das so sagen. In Israel empfand ich immer Hebräisch als meine Muttersprache. Mittlerweile denke ich auch in anderen Sprachen und wechsle im Sprechen hin und her.

STANDARD: Wie haben Sie zu Ihrer schriftlichen Sprache gefunden?

Fassberg: Im Fall des Stücks war es eine Entscheidung für die Basissprache Deutsch, da es im deutschen Sprachraum entstanden ist und erstaufgeführt wird. Die jeweilige Sprache hängt immer von der Szene ab, welche Frage sie antreibt. Es gibt zum Beispiel eine Szene, die für mich nur auf Deutsch funktioniert, weil die deutsche Sprache in diesem Fall über das geeignete "Spielzeug" verfügt. Die Szene auf Hebräisch ist wiederum mit meiner Geschichte in Israel verbunden.

STANDARD: Welchen Bezug haben Sie zu den anderen zwei Sprachen Italienisch und Türkisch?

Fassberg: Ad Italienisch: Ich wollte eine Figur haben außerhalb des deutschen Kulturkreises. Sie setzt sich ständig in Opposition zum "Deutschen" und markiert sich selbst stark als Ausländerin. Das habe ich auf Englisch geschrieben, und es wurde ins Italienische übersetzt. Die türkische Szene basiert auf der Novelle eines israelischen Autors, die von der Türkei handelt. Ich habe nach einem mythischen Klang gesucht, der sich durch das Türkische einlöst.

STANDARD: Autorinnen und Autoren, die zwei- oder mehrsprachig aufgewachsen sind, sind derzeit gefragt. Etwa Ihre direkte Vorgängerin beim Retzhofer Dramapreis, Miroslava Svolikova, oder Ibrahim Amir oder Simon Stone. Warum ist das so? Gehen Sie reflektierter vor, wenn Sie auf Deutsch schreiben?

Fassberg: Es ist, als würde ich hinter den Spiegel der Sprache schauen. Ich stelle mir im Deutschen Fragen, die ich mir in den Muttersprachen nicht so oft stelle: Wie funktioniert das Verb in diesem Satz, wie klingt er, wie wirkt das Gesprochene auf einen Körper? Für mich ist es noch komisch, dass ich auf Deutsch schreibe, denn meine tiefsten Gedanken und Gefühle kommen natürlich auf Hebräisch aus mir heraus. Das Deutsche ist vielmehr mein Rechercheinstrument, eine Sprache, die man korrigieren und präzisieren muss. Manchmal kläre ich Bedeutungsmöglichkeiten mit deutschsprachigen Freunden ab. Das Deutsche ist also vielmehr eine analysierte Sprache.

STANDARD: Inwiefern hat Sie Ihre Tätigkeit als Dramaturgin beim Schreiben beeinflusst?

Fassberg: Es ist von Vorteil, dass ich selbst schon viele Stücke gelesen und betreut habe. Ich wusste nur, ich möchte mich keinen Konventionen unterwerfen, also nicht zwangsläufig eine Handlung von A nach B erzählen. Wichtig war mir zunächst nur, dass jede Szene ein konkretes Thema hat. Als Dramaturgin betrachte ich ein Stück als Menü von dramatischen Aktionen und Gesten, das es zu interpretieren gilt. Beim Schreiben hatte ich keinerlei Inszenierungsfantasie. Das ist nicht meine Aufgabe als Autorin.

STANDARD: Ihr Text ist poetisch. Er enthält Musik und Gedichtzeilen. Woher kommt Ihre Literatur?

Fassberg: Gewöhnlich kommt sie von einem Satz, mit dem ich etwas herausfinden möchte. Wir schöpfen nicht aus dem Nichts. Alles hat eine Tradition, ob wir es mögen oder nicht. Wichtig ist zu wissen, woher man kommt und wer uns zur Seite steht. Wer bereitete den Boden, auf dem ich arbeite?

STANDARD: In Ihrem Stück stehen Twitter-Passagen rätselhaft im Raum. Man weiß nicht, wer das sagt. Was steckt dahinter?

Fassberg: Es sollte offenbleiben, ob im oder außerhalb des Busses getwittert wird. Die Anonymität gibt uns die Möglichkeit, sehr intime Dinge mit einer gesichtslosen Masse zu teilen, zugleich aber auch extrem gewaltsam oder rassistisch zu sein. Wer adressiert wen – das ist die offene Frage, auch im Text.

STANDARD: Ihre Figuren haben keine Namen, nur Sitzplatznummern im Bus. Warum verweigern Sie sich konkreten Identitäten?

Fassberg: Besonders in Europa, mehr als in Israel, ist die Identitätsfrage virulent und beschäftigt Dramatiker sehr. Ich kann aber nur für mein Stück sprechen: Man sitzt im Bus mit fremden Menschen, die man nach den acht oder zwölf Stunden Fahrt wohl nie wieder sehen wird. Dabei erfassen wir flüchtige Blicke und bekommen höchstens Hinweise über die gesprochene Sprache, aber die Figuren bestehen zum Großteil aus unseren eigenen Projektionen. Mich beschäftigt: Wie wird man eine Figur, definiert durch die Sichtweisen der anderen. Es geht nicht um diesen einen deutschen Vater, verheiratet mit einer türkischen Frau und einem bilingual erzogenen Kind. Es geht nicht um ihn, sondern darum, was wir oder die Gesellschaft in diesen Moment hineininterpretieren. Die Geschichte der Figuren bis zu diesem Moment ist nur insofern relevant, als sie das Verhalten der Figur erklärt. Alles andere ist – im Gegensatz zur Prosa – im Drama nicht relevant. Wenn man für das Theater schreibt, schreibt man Repräsentationen, das ist gefährlich, sie können sehr einseitig sein.

STANDARD: Aus dem Bus sind Flüchtlinge herausgeholt worden. Dieses Ereignis bleibt sehr vage.

Fassberg: Das Ereignis existiert nur als vage Erinnerung, es bleibt eigentlich nur die Erinnerung an farbige Schuhe, nicht an die Person, die sie getragen hat. Die Erinnerung ist also instabil und voller Projektionen. So funktioniert auch das Herstellen von Identität: Jemand betritt den Raum, und sofort beginnt man zu projizieren. Die Repräsentation von Identitäten steckt voller Fallen. (Margarete Affenzeller, 20.7.2017)