Janusz Korczak, mit einigen seiner Zöglinge musizierend. Das Foto stammt aus der Sammlung des Warschauer Dokumentationszentrums Korczakianum.

Foto: unbekannter Fotograf / Sammlung Korczakianum

Die deutsche Erziehungswissenschafterin Kristina Schierbaum forscht zum Leben und Wirken des Janusz Korczak.

Foto: privat

Warschau – Es gibt Schicksale, die schnüren einem augenblicklich die Kehle zu. Das Schicksal des Janusz Korczak ist so eines. Der jüdisch-polnische Kinderarzt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter des Warschauer Waisenhauses wurde vor 75 Jahren im KZ Treblinka ermordet, irgendwann nach dem 5. August 1942, auf den Tag genau weiß man das nicht. Korczak hatte seine Waisenkinder in die Gaskammer begleitet, obwohl er selbst mehr als einmal die Gelegenheit hatte, dem Tod zu entgehen. Obwohl er wusste, was ihn im KZ erwarten würde. "Nicht jeder ist ein Schuft", soll Korczak noch gesagt haben, als ihm ein Bahnhofskommandant auf dem Weg ins KZ die Rettung anbot. Der Mann hatte Korczak erkannt und ihm vorgeschlagen, die Kinder alleine fahren zu lassen. Korczak stieg freiwillig in den Eisenbahnwagon nach Treblinka.

Aufs Land würden sie fahren

Korczak wollte "seine" Kinder nicht alleine lassen. Der Komponist Władysław Szpilman hatte beobachtet, wie die Nazis Korczak und die Kinder aus dem Warschauer Ghetto abtransportieren. "Er wollte es ihnen leichter machen", schreibt Szpilman. "Sie würden aufs Land fahren, erklärte er den Waisenkindern. Endlich könnten sie die Ghettomauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe. Er ordnete an, sich festtäglich zu kleiden, und so hübsch herausgeputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an."

Szpilman war von Korczaks Mitmenschlichkeit überwältigt: "Als ich ihnen an der Gęsia-Straße begegnete, sangen die Kinder, strahlend, im Chor. Korczak trug zwei der Kleinsten, die ebenfalls lächelten, auf dem Arm und erzählte ihnen etwas Lustiges. Bestimmt hat der ‘alte Doktor’ noch in der Gaskammer, als das Zyklon schon die kindlichen Kehlen würgte und in den Herzen der Waisen Angst an die Stelle von Freude und Hoffnung trat, mit letzter Anstrengung geflüstert: ‘Nichts, das ist nichts, Kinder’, um wenigstens seinen kleinen Zöglingen den Schrecken des Übergangs vom Leben in den Tod zu ersparen."

Korczaks Selbstlosigkeit bis in den Tod und sein Wunsch, die Kinder beim Abschied aus ihrem jungen Leben nicht alleine zu lassen – das macht sprachlos und stellt uns vor die Frage, wie wir an seiner Stelle gehandelt hätten. Auch Kristina Schierbaum hat sich diese Frage zu Beginn ihrer Forschung gestellt. Die Erziehungswissenschafterin an der Goethe-Universität Frankfurt beschäftigt sich seit sechs Jahren mit dem Leben und Wirken des Janusz Korczak. Derzeit schreibt sie ihre Dissertation über ihn.

Pädagogik, die Kinder nicht formen will

Korczak, der als Henryk Goldszmit 1878 in eine Warschauer Anwaltsfamilie geboren wird, beginnt als Gymnasiast zu schreiben. Er studiert Medizin an der Kaiserlichen Universität in Warschau und Pädagogik an einer konspirativen "Fliegenden Universität". Diese Hochschulen entstehen in Polen im 19. Jahrhundert und agieren im Untergrund. Kritische Studierende, Intellektuelle und Wissenschafter treffen sich zu Vorlesungen in Privaträumen und widmen sich Themen, die in der offiziellen Wissenschaft kaum vorkommen – beispielsweise einer Pädagogik, die nicht auf die Zurichtung von Kindern abzielt.

Früher Sozialmediziner

Bereits als Student streift Korczak durch die Elendsviertel Warschaus, behandelt arme Familien kostenlos. Was die Sozialmedizin heute längst weiß – dass die Lebensbedingungen eines Menschen seine Gesundheit beeinflussen –, Korczak erkennt das früh. Das Bewusstsein, dass Menschen auch durch ihre Lebensumstände zu etwas gemacht werden, wird seine Arbeit bis zuletzt prägen.

Nach Abschluss seiner Studien arbeitet Korczak sieben Jahre lang als Pädiater in einem kleinen jüdischen Kinderspital in Warschau und als unbezahlter Erzieher in Ferienlagern für unterernährte und kranke Kinder aus armen Familien.

"Trennte Kinderheilkunde und Pädagogik nicht"

1912 übernimmt er die Leitung des nach seinen Plänen erbauten und mit Spenden finanzierten jüdischen Waisenhauses Dom Sierot in der Warschauer Krochmalnastraße. Er führt das Heim als "Erziehungsklinik" und verbindet die kinderärztliche Praxis mit pädagogischem Engagement. Schierbaum: "Korczak war ein Sozialmediziner. In seinem Waisenhaus sollte den Kindern ein stabiles Umfeld geboten werden, um Krankheiten zu verhindern. Er trennte Kinderheilkunde und Pädagogik nicht – er blieb bis zuletzt beides, Arzt und Erzieher."

In seinen Büchern und pädagogischen Abhandlungen reflektiert Korczak den Alltag mit den Kindern. Er eröffnet Perspektiven und stellt Fragen – einen geschlossenen Entwurf einer pädagogischen Theorie bleibt er schuldig. Die Gesamtedition seines Werks wird später 15 Bände mit rund 8.000 Seiten umfassen: 24 Monografien, Artikel und Romane, Kinderbücher, Theaterstücke und Rundfunkbeiträge. Korczaks Werke sind heute noch überaus populär – nicht nur in Polen.

"Die Steine weinten" – Kurzfilm von Dieter Reifarth aus dem Jahr 1987 über das Leben und Wirken des Janusz Korczak (ca. 15 Minuten)
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Ein Schonraum für die Kinder

In Korczaks Heim steht das Kindeswohl im Zentrum; es ist alles andere als eine Verwahranstalt. "Jedes Kind hatte ein eigenes Bett, was damals absolut keine Selbstverständlichkeit war", sagt Schierbaum. Im Heim gab es Elektrizität und fließendes Wasser. Das war Luxus zu jener Zeit.

Korczak ermutigt die Heimkinder zu kritischem Denken und zum Austragen von Konflikten; sie können ein Kinderparlament wählen und eine Wochenzeitung gestalten. All das in einer Zeit, in der das herrschende Erziehungsideal vielfach darin besteht, Kindern eigenständiges Denken und das Wahrnehmen ihrer Gefühle auszutreiben. In einer Zeit, in der Hitler in seinen Reden ans deutsche Volk gegen "Muttersöhnchen" anbrüllt und sich tapfere Patrioten in Uniform herbeikrakeelt.

"Korczak schuf einen pädagogischen Schutz- und Schonraum, eine 'Oase' für Kinder, in der sie gehört wurden und eine Stimme hatten", sagt Schierbaum.

Die Deutschen "säubern" das Ghetto

Als kein Zweifel mehr an den mörderischen Plänen der Deutschen besteht, als sie mit der Vernichtung der polnischen Juden und den Deportationen aus dem Warschauer Ghetto beginnen, lenkt Korczak die Kinder ab, beruhigte sie und wiegt sie in Sicherheit. An jenem Tag im August 1942, an dem er mit seinen rund 200 Zöglingen und seinen Mitarbeiterinnen nach Treblinka transportiert wird, "säubern" die Deutschen das Ghetto von allen Waisenhäusern. Kristina Schierbaum: "Der Tag ist erinnerungswürdig, weil ganz viele Kinder und Erwachsene deportiert wurden. Das ist zu wenig bekannt." An Korczaks Seite bis zuletzt in Treblinka: die heute fast vergessene Erzieherin Stefania Wilczynska.

"Kinder werden als Menschen geboren"

Korczak ist pädagogischer Revolutionär im Kontext seiner Zeit. Er tritt gegen Prügelstrafe und Rohrstock auf und erkennt in Kindern eigenständige Persönlichkeiten, denen Respekt durch die Erwachsenen zusteht. Er will Kinder nicht durch Erziehung formen, sondern mit ihnen in Dialog treten und ihnen helfen, ihre Potenziale zu entfalten – durch ein gedeihliches Umfeld und ernsthaftes Interesse an ihnen als Menschen.

"Korczaks Handeln war von der Überzeugung geprägt, dass Kinder nicht erst Menschen werden, sondern bereits als solche geboren sind", sagt Schierbaum. "Für ihn wurde das Kind nicht durch Erziehung zum Menschen gemacht, sondern es war es schon vor der Erziehung." Korczak hat einmal notiert: "Es ist einer der bösartigsten Fehler, anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind – und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen."

Schierbaum: "Korczak fragte, was das Kind im Hier und Jetzt brauche, um gut aufzuwachsen, und nicht, was das Kind brauche, damit einmal etwas aus ihm wird." Diese Orientierung am Heute ist gewissermaßen ein jüdisches Motiv. "Es ist aber auch ein Gegensatz zur Reformpädagogik, die eher die Zukunft des Kindes im Blick hatte und das Kind formen wollte."

Das Recht auf den heutigen Tag

Damit wäre Korczaks Zugang wohl auch heute – wieder – revolutionär. Geht es gegenwärtiger Erziehung und pädagogischer Förderung doch vielfach darum, Kinder möglichst gut auf eine "erfolgreiche" Zukunft vorzubereiten – und weniger auf zukünftiges Lebensglück abseits ökonomischer Kategorien. Korczak dagegen wollte "seinen" Kindern Glück im Jetzt ermöglichen und schrieb: "Jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag." Die von ihm verfassten Kinderrechte sind als Vorläufer in die Kinderrechtskonvention der EU eingegangen.

Korczaks Entscheidung, im Warschauer Ghetto zu bleiben, das er einmal als "Schlachthaus" bezeichnet habe, resultiere aus dieser seiner Verantwortung für die Kinder, sagt Schierbaum. In seinem Werk und in Briefen nach Israel gab er mehrfach an, dass er sich den Kindern bis zum Schluss verpflichtet fühlte. "Er wollte die Kinder nicht im Stich lassen." Sein bedingungsloser Humanismus, diese Liebe zum Menschen, reproduziert sich bis zuletzt. Er wünsche niemandem etwas Böses, schreibt Korczak einmal. "Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht." (Lisa Mayr, 21.7.2017)