Seit seinem Rücktritt als Direktor des Leopold-Museums 2013 ist Tobias Natter als Ausstellungskurator und Buchautor tätig.

Foto: Heribert Corn

Schiele in XXL: Hrsg. T. Natter, 612 Seiten, D/E/F, Hardcover, Taschen-Verlag, 150 Euro.

Cover: Taschen
Grafik: Standard

Zeitgerecht vor dem 100. Todestagjubiläum im kommenden Jahr liegt die vor zwei Jahren von Tobias Natter angekündigte Publikation zu Egon Schiele (1890–1918) nun vor. Ende Mai erschien sie im Taschen-Verlag, im Umfang von 612 statt der anfänglich kalkulierten 400 Seiten. Ein XXL-Format, für das der durchschnittliche Schreibtisch erst leer geräumt werden muss, misst es im aufgeklappten Zustand doch stattliche 65 cm in der Breite und 40 in der Tiefe. Wehe den Kunsthistorikern, die parallel auch andere Fachliteratur beizuziehen wagen und keine kabellose Tastatur ihr Eigen nennen.

Alternativ gilt es, die 6,1 Kilogramm hin- und herzuhieven oder auf dem Boden kniend zu studieren. Herr Taschen, ganz ehrlich, Knieschoner wären ein willkommenes Gimmick. Als Arbeitsutensil eignet sich ein solch opulenter Bildband, der zeitgleich ein wissenschaftlicher Wälzer sein will, tatsächlich nur bedingt.

Entgegen der ursprünglichen Ankündigung handelt es sich um kein Werkverzeichnis, sondern erfasst nur Sämtliche Gemälde 1909–1918, so der Titel. Herausgeber Tobias Natter setzt "mit jener Entwicklung bei Schiele um 1908/09 ein, die sowohl biografisch als auch ausstellungshistorisch und künstlerisch eine Zäsur bringt", wie er beschreibt. Das Frühwerk wird über einen der sechs Essays anderer Autoren (unter anderen Jill Lloyd, Diethard Leopold), konkret über Christian Bauers Aufsatz Wunderkind und Rebell abgedeckt.

Dabei geht es um knapp 170 Gemälde aus dem OEuvre des Künstlers, die etwa in Jane Kallirs Werkverzeichnis berücksichtigt werden. Sie ist die Enkelin Otto Kallir-Nirensteins, der als Pionier der Schiele-Forschung gilt: 1923 eröffnete er seine "Neue Galerie" (Wien) mit einer ihm gewidmeten Ausstellung, fünf Jahre später initiierte er anlässlich des zehnten Todestages die erste retrospektive Schau, die auf zwei Standorten verteilt in seiner Galerie und in den Räumlichkeiten des Wiener Hagenbundes stattfand.

Nach dem "Anschluss" floh er 1938 zuerst nach Frankreich und später in die USA. 1939 gründete er dort die nun von seiner Enkelin betriebene Galerie St. Etienne in New York. Die erste Schiele-Ausstellung fand dort 1941 statt und ebnete die Anerkennung für den Künstler außerhalb seiner Heimat. Mittlerweile werden auf dem internationalen Kunstmarkt zum Teil zweistellige Millionenbeträge für seine Werke bezahlt, nicht nur für Ölgemälde, sondern auch für Arbeiten auf Papier.

Kallirs Standardwerk von 1990

Das erste Werkverzeichnis hatte Kallir-Nirenstein 1930 veröffentlicht, dem 1966 eine überarbeitete Fassung folgte. 1972 legte Sammler Rudolf Leopold Nummer drei vor. Zwischendurch erblickte 1982 eines in Mailand das Licht der Welt, hinterließ jedoch in der Fachwelt kaum Spuren, wie Natter betont. Zum 100. Geburtstag des Künstlers publizierte Jane Kallir 1990 Nummer fünf, das sowohl die Gemälde als auch mehr als 2500 Arbeiten auf Papier, Druckgrafiken und vier Skulpturen inkludierte. Die Auflage war schnell vergriffen, eine zweite wurde, um zusätzliche Einträge ergänzt, 1998 publiziert.

Dieses gilt bis heute als weltweit gültiges Standard- und Referenzwerk – und die Autorin als internationale Kapazität. Sie arbeitet derzeit an einer Onlineversion, die den Vorteil laufender Aktualisierung bietet. Und sie war diejenige, bei der Taschen ursprünglich anklopfte, wie sie auf Anfrage bestätigt. Nach zwei Jahren Korrespondenz war klar, man würde nicht zueinanderfinden: Konkret spielten rechtliche Aspekte eine Rolle, vor allem eine Konkurrenzklausel, die Kallir künftig ähnliche Publikationen untersagt hätte.

Davon wäre auch eine aktualisierte Auflage ihres Gesamtverzeichnisses betroffen gewesen, das ja, wie erwähnt, auch Arbeiten auf Papier umfasst. Und solche fanden sich im Laufe der vergangenen 20 Jahre einige, die in der Forschung und neuer Fachliteratur berücksichtigt werden müssen.

Dem Verlag ging es nur um Gemälde, um einen imposanten Bildband, der sich als Werkverzeichnis vermarkten ließe.

Sechs "neue" Gemälde

Tobias Natter, seit seinem Abgang als Direktor des Leopold-Museums 2013 als Kurator für verschiedene Museen tätig, ließ sich dagegen nicht zweimal bitten. Vermutlich auch, weil er – wie schon bei Gustav Klimt (Taschen-Verlag, 2012) – praktischerweise nicht von null beginnen musste, sondern an die grundlegende Forschungsarbeit bisheriger Autoren anknüpfen konnte. Das soll seinen Beitrag nicht über Gebühr schmälern, immerhin fand er über seine systematische Durchforstung und Auswertung von Quellen sogar sechs Gemälde, die, wie er betont, in den vorangegangenen Verzeichnissen fehlen.

Aus seiner Sicht sei deren Existenz belegt, "Technik, Maße und Verbleib" jedoch unbekannt. Ob es sich um verworfene, zerstörte oder übermalte Arbeiten handeln könnte? Verlässliche Aussagen wolle er nur zu ihrem Nachweis treffen, erklärt er auf Anfrage.

Ungewöhnlich ist allerdings die Handhabung mit nachweislich "vom Künstler aufgegebenen" Bildern, wie Natter sie nennt. Am Beispiel Bekehrung II (Nr. 145) erklärt: Dieses mit 200 mal 300 Zentimeter monumentale Gemälde nahm Schiele 1913 in Angriff. "Aber Schiele scheint das Werk aufzugeben", schreibt Natter und erwähnt an anderer Stelle, dass es zerschnitten worden sei. Wann und durch wen dieser brachiale Eingriff erfolgt sein könnte, erfährt man nicht.

In der Provenienzangabe wird das Werk indes als verschollen bezeichnet. Wie jetzt, "zerschnitten" oder "verschollen"? Wohl doch Ersteres, da noch fünf Fragmente des Bildes existieren, die anschließend unter den fortlaufenden Nummern 146 bis 150 erfasst werden – ergibt in Summe sechs Werke statt fünf.

Die wissenschaftlichen Usancen sehen in solchen Fällen entweder eine Subnummerierung (zum Beispiel 145a–145e) oder eine separate Erfassung vor. Kallir und Leopold wählten hier das System einer römischen Nummerierung (für das Original), die Natter nun "auflöste". Das Ergebnis sind mehr Werke, als tatsächlich existieren können. Der Sinn dahinter sei ein dokumentarischer, der "für das Verständnis von Schieles Entwicklung wichtig" sei, erklärt der Autor.

Mangelhafte Quellenangaben

Eines der Fragmente, Weiblicher Rückenakt mit Schultertuch, erwarb Rudolf Leopold 1971, es gehört seit 1994 zum Bestand des Museums. Unter Provenienz werden die Vorbesitzer genannt und auf "Details siehe Provenienzdossier des Leopold Museums, 30. April 2011" verwiesen. Ein Hinweis, der, wie bei allen anderen Schiele-Werken dieses Museums, ins Leere führt: Denn in der gesamten Publikation sucht man die Information, wo diese Dokumente veröffentlicht wurden oder zu finden sind, vergeblich.

In den Tiefen der Museumswebsite, wie man hierzulande weiß: Allerdings sind die Dossiers dort nicht nach Datum, Werkverzeichnisnummern oder Technik (zum Beispiel Öl, Aquarell) sortiert, sondern nach Bildtiteln, die zum Teil andere sind ("Rückenansicht eines weiblichen Halbaktes mit Tuch").

Bei den für die Erforschung der Provenienzen und das Verfassen der Dossiers für den Schiele-Bestand des Leopold-Museums verantwortlichen Autoren handelt es sich um jene beiden, deren Tätigkeit seit Jahren aus Bundesmitteln finanziert wird: Sonja Niederacher und Michael Wladika, zwei Historiker, die in dieser Forschungsdisziplin international Anerkennung genießen.

Allein, sie werden von Tobias Natter an keiner Stelle namentlich genannt, wiewohl er sich ihrer Erkenntnisse bedient. Derlei ist unter Forschern nicht nur verpönt, sondern entspricht schlichtweg nicht den wissenschaftlichen Standards korrekter Quellenangaben.

"Phänomenal gelungen!"

Auf Anfrage bleibt Natter eine konkrete Antwort schuldig und verweist stattdessen auf eine Fußnote, in der er "die oft detailliert recherchierten" Dossiers lobend erwähne. Dazu habe er auch vom Museum, also vom Direktor oder vom Vorstand, "noch keinen Einspruch gehört", vielmehr habe ihn Diethard Leopold beglückwünscht: "zu dem wunderschönen großen Schielebuch!", "Aufmachung und Gliederung und Werkverzeichnis erscheinen mir phänomenal gelungen!".

Tobias Natter ist sichtlich stolz: auf seine Leistung, die auf Spezialpapier gedruckten Aquarelle, die Papier- und ganz besonders auf die Farbqualität. Denn allein an der Farbabstimmung habe man mit Litho-Fachleuten monatelang getüftelt. Das verdient Lob, und dafür erhofft, ja erwartet man Applaus. Welche Spuren es in der Welt der Experten tatsächlich hinterlassen wird, gilt es abzuwarten. (Olga Kronsteiner, Album, 23.7.2017)