STANDARD: Sie haben Ihr Atelier aufgeräumt?

Messensee: Wieso wissen Sie das? Ja, und üblicherweise stehen die Bilder, die Sie hier sehen, mit der Vorderseite zur Wand. Denn wenn ich eine Arbeit beendet habe, schaue ich sie mir nur noch selten an.

STANDARD: Wissen Sie eigentlich, wie viele Bilder und Zeichnungen Sie gemacht haben im Lauf Ihres Lebens?

Messensee: Sehr viele, es werden schon tausende sein.

STANDARD: Sie wollten schon als Kind Maler werden, es kam nie etwas anderes für Sie infrage. Wieso eigentlich?

Messensee: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Man weiß es halt.

Er akzeptiert, dass "die Realität nicht die Wahrheit ist", den Tod akzeptiert er nicht: Jürgen Messensee
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Aber in den 1950er-Jahren waren Sie, wie viele andere junge Europäer, in Schweden arbeiten, weil man dort viel verdient hat. Sie haben am Fließband Gurken eingedost, sind dann aber lieber in Stockholm ans Wasser malen gegangen.

Messensee: Ja, stimmt, drei Monate war ich dort, man konnte viel verdienen in der Gurkenfabrik. Aber es war eine athletische Arbeit, man kann sich gar nicht vorstellen, wie schwer diese Gurkensäcke waren, die da abgeladen werden mussten. Ich war aber am Ende des Fließbands, bei den Dosen.

STANDARD: Und kurz waren Sie auch am Theater, sogar am Burgtheater ...

Messensee: Und ich war sogar sehr gut. Das hat sich aus einer bestimmten Konstellation ergeben, aber darüber rede ich nicht. Denn was ist Theater? Theater ist eine psychiatrische Anstalt: Oben sind die Masochisten, das sind die Schauspieler. Unten sitzt der Regisseur, das ist ein Sadist. Und das Publikum, das sind Voyeure. So ist das.

STANDARD: Sie sind apodiktisch.

Messensee: Ich will aber niemanden kränken. Ich mache meine Arbeit, ich mache, was ich kann. Ich habe mich auf diese Seinsform eingelassen. Ich akzeptiere, dass die sogenannte Realität nicht die Wahrheit ist. Fürs normale Leben hat das aber keine Bedeutung (klopft auf den Tisch): Da ist ein Tisch ein Tisch, und ein Sessel ist ein Sessel.

STANDARD: Ich möchte mit Ihnen übers Malen, das Denken und die Zeit reden. Für Sie ist Malerei eine Methode des Denkens?

Messensee: Ja, eine unvorstellbare schwierige Methode. Sie ist kaum durchschaubar für den, der sie denkt, und es sind nur sehr wenige Menschen in der Lage, in diesem Medium die Botschaften mitzuteilen, die sie empfangen. Es gibt nur ganz wenige ganz Große, die das können – und das sind die, um die es geht. Die betrachte ich in großer Ehrfurcht, darf sie aber nicht überbewerten.

STANDARD: Sie meinen Tintoretto, Rembrandt, Picasso ...

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Große Kunst ist in den Augen von Maler Messensee zeitlos – Pablo Picasso zählt er zu den Großen, nennt ihn aber nicht.
Foto: Getty Images

Messensee: Um die Namen geht es nicht. Es geht um diese außergewöhnlichen Menschen aus der Bildkunst, die zwar in ihrer Zeit waren, aber mit ihrer Arbeit in der Nichtzeit sind. Das ist das Unglaubliche an der Kunst.

STANDARD: Kunst ist zeitlos?

Messensee: Bei der ganz großen Kunst hört die Zeit auf zu bestehen, da gibt es keine Zeit. Denn sonst wären die großen Leistungen ja nur Zeitzeugen, das sind sie aber nicht. Sondern die großen Werke sagen über uns, den Menschen, Umfänglichstes aus.

STANDARD: So wie die Kunst der alten Griechen ...

Messensee: Die Griechen sind der Maßstab Europas bis zum heutigen Tag. Alles, was wir tun, beruht auf dem griechischen Denken. Die ganze Welt musste ihr Denken übernehmen, weil es in bestimmten Bereichen überlegen war. Einer der Vorsokratiker sagt in einer seiner Schriften: "Was Gott ist, kann ich beantworten: Es gibt ihn, oder es gibt ihn nicht." Sie müssen sich das vorstellen: Das war im 5. Jahrhundert vor Christus. Aber im Moment, in dem der Mann das gesagt hat, war er im Jetzt. Und da hört eben die Zeit auf.

STANDARD: Die Zeit fasziniert Sie. Ist das der Grund, warum Sie sich mit Quantenphysik beschäftigen?

Messensee: In der Physik spielt die Zeit eine essenzielle Rolle. Einstein hat uns klargemacht, was Zeit ist. Ob die Lichtgeschwindigkeit die ultimative ist? Die Quantenphysik sagt, es geht unmittelbar. Ob Laser oder Handys: Ohne Quantenphysik gäbe es das jedenfalls alles nicht. Aber das sind schon Anwendungen – und die Kunst kann man nicht anwenden.

STANDARD: Außer, man verstünde darunter, dass man Bilder an die Wand hängt.

Messensee: Die Leute verstehen unter Bildern Urlaubsfotos. Da geht es um ihre Sentimentalitäten. Aber die Kunst ist ganz etwas anderes. Nehmen Sie Tintorettos "Susanna im Bade", das Bild, das eines seiner besten ist und Österreich das Glück hat zu besitzen: Warum ist es so großartig, so bedeutungsvoll? Wäre es bloß ein Zeitdokument, hätte es keine Relevanz. Es ist ein Ausdruck des Genius, der Possibilitäten, der Möglichkeiten des menschlichen Geists. Eine andere Möglichkeit ist Physik, ist der Physiker Werner Heisenberg, ist Quantenphysik.

STANDARD: 2010 haben Sie bei der Internationalen Akademie Traunkirchen, die Ihr heutiger Freund, Quantenphysiker Anton Zeilinger, veranstaltet, zum Thema "Die Zeit und ihre Fortschritte" gesprochen. Was sind ihre Fortschritte?

Mit Quantenphysiker Anton Zeilinger ist Messensee gut befreundet, mit ihm teilt er seine Liebe zur Naturwissenschaft.
Foto: APA/Techt

Messensee: Da war ich mit lauter eminenten Naturwissenschaftern zusammen. Ich dachte, jetzt bin ich in Teufels Küche geraten, denn wie sollte ich mit ihnen reden, ist doch die Sprache der Kunst für die meisten Menschen unverständlich. Aber bevor ich abgereist bin, stieß ich im Atelier hier auf meinen Satz: "Es zerplatzt mir die Zeit." Welch Koinzidenz. Genau darüber habe ich referiert, ich habe Hinweise gegeben, wo die Zeit aufgehoben ist, wo Zeit nicht existiert. Eines meiner Beispiele war die Musik von Johann Sebastian Bach. Warum hören wir uns seine "Brandenburgischen Konzerte" an? Weil sie relevant sind. Und das spüren die Menschen, da ist etwas, was sie berührt. Da existiert die Zeit nicht.

STANDARD: Das ist das, was Sie "richtige Kunst" nennen?

Messensee: Ja, wahre Kunst.

STANDARD: Andere Kunst wäre falsche?

Messensee: Nein. Es gibt nur Kunst oder keine. Kunst ist Kunst oder nicht existent.

STANDARD: Wer setzt den Maßstab?

Messensee: Die Maßstäbe sind uns abhandengekommen, unsere Gesellschaft ist maßstablos geworden. Jeder macht irgendwas. Das ist die Idiotie der Ausdehnung des demokratischen Gedankens auf Bereiche, wo er gar nichts zu suchen hat: Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich jeder mitteilt. Der eine hat eine Blähung und glaubt, es ist der Heilige Geist – der andere tut Ähnliches.

STANDARD: Sie selbst nennen sich einen Nachdenker. Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen Philosophie und Kunst?

Messensee: Philosophie und Wissenschaft stehen der Realität, die uns umgibt, gegenüber. Die Kunst dagegen erzeugt eine Realität, die es nie gegeben hat. Es gab die Bilder nicht, es gab die Musik nicht. Es wird etwas hinzugefügt, was vorher nicht war. Das ist der essenzielle Unterschied, und deswegen hat die Philosophie so große Probleme mit der Kunst. Schauen Sie nur, was geschrieben wurde über die Kunst. Ein Mann wie Immanuel Kant, der in seinem Leben wahrscheinlich nie ein bedeutendes Bild gesehen und nie bedeutende Musik gehört hat in Königsberg, das er nie verlassen hat, redet sehr explizit über die Kunst. Ich frage mich, ob das berechtigt ist. Ich denke nach, ja, doch über Kunst und das eigene Werk zu sprechen ist praktisch unmöglich. Jedenfalls hat man die Hoffnung, dass man es richtig macht.

Der Kunstbetrieb ist in den Augen Messensees "pervers". Er habe damit nichts zu tun.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Woran merken Sie, dass es richtig ist? Kann es das perfekte Bild geben?

Messensee: Entschuldigen Sie, aber ich kann diese Frage nicht verstehen. Das Perfekte findet nicht statt in meinem Kopf. Man weiß schon, wenn es richtig ist. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

STANDARD: Nochmals zu Kunst und Realität. Sie schaffen also Realität?

Messensee: Wenn Sie das glauben, unterstellen Sie, dass ich wahre Kunst mache – das ist gütig von Ihnen. Ich meine das nicht kokett, sondern weil die Frage ist: Wer glaubt an uns – außer wir selbst? Wenn wir nicht an uns glauben, sind wir arm dran. Das An-sich-Glauben ist in einer Existenz wie der meinen von besonderer Bedeutung, denn andere Leute glauben nicht an mich. Die Konkurrenten behandeln einen unfreundlich, und die Rezeption begreift nicht.

STANDARD: Sie fühlen sich ungerecht behandelt vom Kunstbetrieb?

Messensee: Ich habe mit dem Kunstbetrieb nichts zu tun, er ist pervers. Schauen Sie sich einmal die Auktionsergebnisse an: Grauenhafte, irrelevante Erzeugnisse erlösen hunderttausende Euro. Aber das ist der Markt.

STANDARD: Der Markt hat recht. Klingt, als fühlten Sie sich zu wenig wertgeschätzt.

Messensee: Aber nein, das sind keine Kategorien für mich. Ich habe begriffen. Wie viele Leute interessiert denn das alles überhaupt? Nehmen wir wieder die Physik: Sie interessiert nur wenige. Und welche Auswirkungen auf unser Leben hat sie? Enorme! Aber die Kunst, die ist eigentlich etwas Spirituelles, vergessen Sie das nicht.

STANDARD: Auch wenn sie Realität schafft?

Messensee: Sicher. Gehen Sie einmal in Ägypten durch den Tempel von Karnak – wenn das nicht spirituell ist, dann ist nichts spirituell. Dieser Energie kann sich kaum jemand entziehen.

STANDARD: Ihre Arbeit ist Ihnen auch Erkenntnisgewinn, und Erkenntnisgewinn ist ja oft quälend. Ist das Malen für Sie ein quälender Prozess?

Messensee: Da kommen wir zur wichtigsten Frage. Wer bin ich eigentlich? Schauen Sie, ich gehe jeden Tag hierher ins Atelier und versuche in den Zustand zu gelangen, in dem ich das, was man mir anbietet, annehmen kann. Dieser Prozess und meine große Schwierigkeit sind zu verstehen, was man mir angeboten hat. Ich sage, das Angebot ist der liebe Gott. Das ist jene Außerordentlichkeit, die wir überhaupt nicht verstehen können. Dass wir sprechen, etwas begreifen, existieren können, der Aufbau unseres Organismus: Das alles ist ein einziges Wunder. Wer hat es denn gemacht? Da gibt es ein ungeheures Konzept, das sogar so weit geht, uns gewisse Entscheidungen zu überlassen. Das meine ich mit dem, was mir angeboten wird, und darum habe ich einmal gesagt, ich bin "der Lehrbub vom lieben Gott". Ich will meine Aufgabe wahrnehmen, und es ist mir auch nicht egal, ob man meine Arbeit wahrnimmt, denn ich bin ja nur ein Mensch. Jeder Mensch hat die Notwendigkeit, wahrgenommen zu werden.

STANDARD: Gibt es denn ein Bild, das Sie besser nie gemacht hätten?

Messensee: Nein, jede Arbeit zieht eine andere nach sich, und wenn man scheitert, macht das gar nichts. Man scheitert, weil man eine Einsicht gewonnen hat, und kann von dort aus zeitlos voranschreiten. Die Malerei hat mir das immer gesagt, die Quantenphysik hat mich bloß bestätigt.

Goethes Faust sucht nach dem, was die Erde im Innersten zusammenhält. Jeder, der in die "Drogenwelt der Kunst gefallen ist", entkomme dieser Suche nicht, sagt Messensee.
Foto: Stieler

STANDARD: Grundsätzlich geht es auch Künstlern darum zu finden, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Messensee: Ja. Goethe hat es großartig formuliert. Jeder, der je in die Drogenwelt der Kunst gefallen ist, entkommt dieser Suche nicht, und er entkommt sich nicht. Betroffene, die keine ausreichenden Possibilitäten besitzen, sind arm dran.

STANDARD: Das ist aber in der Wissenschaft ähnlich, oder?

Messensee: Ja, aber was die Wissenschaft überhaupt nicht kann, ist, über einen Bereich zu reden, der uns enorm viel bedeutet und uns bezeichnet. Das ist unser Herz. Die Wissenschaft kann nicht über Liebe, Wollust, tiefes Gefühl reden, das kann sie nicht – aber die Kunst spricht zuvorderst davon.

STANDARD: Die Kunst spricht von der Liebe?

Messensee: Wenn Paul Cézanne am Ende seines Lebens Bilder malt, und der Himmel ist blau-grau, die Landschaft ist blau-grau, der Mont Sainte Victoire ist blau-grau, und die Landschaft vor dem Mont Sainte Victoire ist auch blau-grau, dann gibt er uns trotzdem eine Beschreibung von etwas Außerordentlichem, von etwas, das uns zutiefst bezeichnet, uns alle. Die Künstler reden ja für uns alle.

STANDARD: Wenn Malen für Sie eine Ausdrucksform von Erkenntnis ist: Zu welcher Erkenntnis sind Sie gelangt?

Messensee: Meine Bilder sind die Notationen dessen, was mir widerfahren ist – wobei einem ja viel widerfahren kann ...

STANDARD: Das Leben kann einem widerfahren.

Messensee: Ja, meine Bilder sind die Notationen meines Lebens. Wenn ich Glück habe und mein Werk in 200 Jahren noch etwas bedeutet, dann muss der Beschauer in die Zeit zurückgehen, in der ich es gemacht habe. Dann muss es außerhalb der Zeit gewesen sein.

STANDARD: Wird das so sein?

Messensee: Ohne diese Zuversicht könnte ich nie gearbeitet haben. Ob das unbescheiden war oder nicht demütig genug: Ein Künstler muss davon ausgehen, dass sein Werk essenzielle Bedeutung hat. Sonst gibt es keine Motivation.

STANDARD: Sie sagten einmal: "Wenn dieses Sein vorüber ist, kommt ein anderes. An den Tod glaub ich in keinster Weise." Immer noch nicht?

Messensee: So ist es. Gestern ist einer meiner Freunde gestorben. Da dachte ich: "Großartig. Diese Pilgerfahrt ist beendet. Jetzt kommt was anderes."

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Messensee: Um die Liebe. Die Liebe ist das Alpha und das Omega. Meine Bilder reden von nichts anderem. (Renate Graber, 22.7.2017)