Regensburg – Man könnte annehmen, dass man sich im Stress mehr auf seine eigenen Probleme konzentriert, als sich um die Sorgen anderer Menschen zu kümmern. Tatsächlich aber handelt man im Durchschnitt hilfsbereiter, wenn man unter persönlichem Druck steht, wie nun deutsche Psychologen herausgefunden haben.

Viele moralische Entscheidungen im Alltag müssen schnell und unter Stress getroffen werden. Man denke beispielsweise an folgende Situation: Nach einem anstrengenden Arbeitstag möchte man unbedingt den Bus erwischen, um rechtzeitig zu einem wichtigen Termin zu Hause zu sein. Kurz bevor der Bus abfährt, lässt ein älterer Herr versehentlich seine Tüte mit Einkäufen fallen und alles purzelt auf den Gehsteig. Was macht man? Hilft man dem Mann beim Einsammeln oder steigt man in den Bus?

Inspiriert durch derartige Fragestellungen hat eine Forschergruppe um Brigitte Kudielka von der Universität Regensburg in Zusammenarbeit mit Kollegen am Bezirksklinikum Regensburg untersucht, welchen Einfluss akuter Stress auf das moralische Entscheidungsverhalten in Alltagssituationen hat.

Selbstlos oder egoistisch?

Dazu wurden insgesamt 50 gesunde junge männliche Versuchsteilnehmer zunächst entweder mit dem "Trierer Sozial Stress Test" (TSST) oder einer nicht-stressenden Kontrollbedingung konfrontiert. Der TSST stellt ein inzwischen weltweit verwendetes Standardprotokoll zum absichtlichen Erzeugen von moderatem psychosozialen Stress im Verhaltenslabor dar. Anschließend beantworteten die Probanden 28 alltagsbezogene moralische Dilemmata mit selbstloser oder egoistischer Antwortalternative.

Die Teilnehmenden sollten zudem ihre Sicherheit und ihr Gefühl bei den Moralentscheidungen angeben. Außerdem füllten die Probanden verschiedene Selbstberichtsfragebögen aus und gaben zu mehreren festgelegten Zeitpunkten Speichelproben zur Messung des Stresshormons Cortisol ab.

Stresshormon Cortisol könnte den Ausschlag geben

In der Studie zeigte sich, dass sich die Versuchsteilnehmer der Stressbedingung bei den moralischen Dilemmata im Mittel weniger egoistisch entschieden als die Probanden der Kontrollbedingung. Zudem waren selbstlose Entscheidungen durch eine höhere Entscheidungssicherheit und durch positivere Emotionen charakterisiert als egoistische Entscheidungen. Die Forscher fanden darüber hinaus einen positiven Zusammenhang zwischen dem Cortisolspiegel und altruistischem Entscheidungsverhalten, wie sie im Fachjournal "Hormones and Behavior" berichten.

Womöglich könnte das Stresshormon Cortisol also für die gefundenen Effekte verantwortlich sein. Weiterhin zeigten die Ergebnisse, dass vor allem die Persönlichkeitseigenschaft "Verträglichkeit" eine wichtige Rolle bei moralischem Entscheidungsverhalten in Alltagssituationen zu spielen scheint.

Positive Folgen von Stress

Damit verdeutlicht die Studie, dass das allgegenwärtige und oft negativ konnotierte Phänomen Stress durchaus auch prosoziale Konsequenzen haben kann und nicht automatisch nur mit negativen Auswirkungen in Verbindung gebracht werden sollte. (red, 26.7.2017)