Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl ist kein Stuhl, sondern Kutschbock, Segelboot, Wippe, Leiter, Wurfgeschoß, Pferd, Puppenbett, Königsthron, Höhle – wenn er einem Kind gehört", sagt Designexperte Florian Hufnagl. Der langjährige Leiter der Neuen Sammlung in München muss es wissen: Kinder benutzen die Dinge des Alltags eben nicht nur in ihrer primären Funktion. Sie erweitern sie vielmehr durch die Kraft ihrer Imagination.

Kein Wunder also, dass sich die großen Meister wie Alvar Aalto, Arne Jacobsen, Hans Wegner, Marco Zanuso oder Richard Sapper dem Entwerfen von Kindermöbeln ebenso gewidmet haben wie heutige Gestalter. "Kinder machen keine Spiele, sondern wissenschaftliche Untersuchungen. Sie wollen durch das Spielen die Welt verstehen. Ich glaube, man müsste all die Nobelpreise dieser Welt den Kindern verleihen, weil sie intelligenter sind als Einstein", ist der sonst so mürrische Enzo Mari überzeugt. Schon in den 1950er-Jahren hat der Mailänder Designavantgardist erste Kindermöbel und Spiele entworfen, die bis heute von Danese produziert werden.

Wohnen für Kleine mit Fun-Faktor: Stockbett und Schaukelpferd von Magis, Elefant von Vitra, Sessel von Hans J. Wegner und ein Brumm-brumm-Auto von Kartell.
Fotos: Magis; Vitra; Kartell; Carl Hansen & Son

Junges Thema

Doch so allgegenwärtig Möbel für die Kleinen sind: Das Thema ist vergleichsweise jung. Zwar fanden Wiege und Laufstall schon frühzeitig Verwendung. Doch Kindermöbel in unserem heutigen Verständnis haben sich erst mit dem Beginn der Aufklärung um 1800 etabliert – als pädagogische Heranführung an die Erwachsenenwelt. Die industrielle Fertigung begann 1866, als die Gebrüder Thonet in Wien eine erste Kollektion von eigens auf Kinder zugeschnittenen Möbeln ins Sortiment aufnahmen. Auch die Gestalter der Wiener Werkstätte wie Josef Hoffmann oder Joseph Olbrich entwarfen um 1900 Kindermöbel, während Marcel Breuer, Walter Gropius und Alma Siedhoff-Buscher das Thema ans Bauhaus holten und zu einem untrennbaren Bestandteil der Alltagskultur erklärten.

Dass Kindermöbel sogar Designgeschichte schreiben können, haben Charles und Ray Eames 1945 mit ihrem Hocker "Elephant" aus gebogenem Sperrholz bewiesen. Zwei Dekaden später haben Richard Sapper und Marco Zanuso mit dem Stapelstuhl "K1340" (1964) für Kartell den weltweit ersten Stuhl aus reinem Kunststoff vorgestellt. "Wir hatten einen Stuhl geschaffen, der zugleich ein Spielzeug zur Stimulierung der Fantasie des Kindes war. Er war sowohl unzerstörbar als auch so weich, dass sich niemand damit verletzten konnte", beschrieb Marco Zanuso die Vorzüge des kompakten Sitzmöbels, das in leuchtendem Rot, Blau, Gelb und Weiß eine klare Abgrenzung zu den Möbeln der Großen vollzog.

Wegschleppen oder balancieren?

Der entscheidende Punkt: Design für Kinder geht über Miniaturisierung hinaus. Formen, Farben, Materialien und Oberflächen werden speziell auf die Bedürfnisse der Kleinen zugeschnitten, die von den Unternehmen längst als eine ernstzunehmende Zielgruppe anerkannt werden. Kartell hat die bestehenden Kindermöbel im vergangenen Jahr in eine eigene Kollektion überführt, die um Schaukeln von Philippe Starck, Tretautos von Piero Lissoni und Schaukelpferde von Nendo ergänzt wurde. Bereits 2004 hat der italienische Möbelhersteller Magis die Kinderkollektion "Me Too" vorgestellt, die mit Marc Newson, Eero Aarnio und Marcel Wanders kaum minder prominent besetzt ist und mit derzeit 35 Arbeiten die Möblierung des Kinderzimmers erlaubt.

Bank, Hocker, Lümmelmöbel, Kuscheltier, all diese Funktionen erfüllen die Objekte der Gestalterin Renate Müller, die es bis ins MoMa geschafft haben.
Fotos: Renate Müller

"Kinder müssen in ihren Spielsachen immer wieder Neues entdecken können. Lässt es sich herumdrehen, wegschleppen oder darauf balancieren? Oder passt noch der kleine Bruder mit drauf?", erklärt Renate Müller. Die Thüringerin hat sich einen Namen mit fantasievollen Tierfiguren aus Rupfen gemacht, die im MoMA in New York gezeigt werden und auf Auktionen mitunter fünfstellige Beträge erzielen. Die vornehmlich für therapeutische Einrichtungen entworfenen Einzelstücke sind derart groß, dass sie die Grenzen zwischen Spielzeug und Sitzmöbel nonchalant über Bord werfen und selbst großgewordene Kinder auf Anhieb in den Bann ziehen.

Impulse für Große

Kindermöbel erfüllen noch eine weitere Funktion: Sie erlauben auch großen Kindern, ihren Spieltrieb wieder offen auszuleben – entweder in der eigenen Gedankenwelt oder im Sinne einer überaus konkreten Handlungsanweisung.

Bestes Beispiel ist der Schaukelstuhl "Voido", den Ron Arad 2006 für Magis entworfen hat und als skulpturaler Doppelkringel auch im ungenutzten Zustand jedem Raum die nötige Würze verleiht. Einer anderen kindlichen Lieblingsbeschäftigung widmet sich das Londoner Designerduo Barber Osgerby mit dem Kunststoffstuhl "Tip-Ton" (2011) für Vitra, bei dem Kippeln explizit erlaubt ist.

Auch dies ist kein Zufall: Denn Bewegung, so die übereinstimmende Meinung von Ergonomieexperten, fördert die Rückenmuskulatur und beugt somit typischen Bürokrankheiten besser vor als die Einengung in ein starres Sitzkorsett. In diesem Sinne handelt es sich bei Kindermöbeln keineswegs lediglich um geschrumpfte Objekte für den Nachwuchs. Sie sind vielmehr ein Experimentierfeld, um selbst den Lebensgewohnheiten der Großen neue Impulse zu verleihen. (Norman Kietzmann, RONDO, 14.8.2017)