Die Mehrheit liegt nachweislich daneben, wenn sie die eigenen Fertigkeiten in verschiedenen Bereichen einschätzen soll. Ein Vorteil der Selbstüberschätzung: Superkräfte?

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Bei einer aktuellen Befragung aus London, über die der "Guardian" berichtete, meinten 98 Prozent der Teilnehmer, dass sie netter sind als andere. Diese Tendenz, sich besser einzuschätzen als den Durchschnitt, wird in der Fachsprache als "Above Average"- oder "Better than Average"-Effekt bezeichnet.

Zahlreiche weitere sozialpsychologische Studien weisen den Effekt nach, und zwar für die unterschiedlichsten Lebensbereiche. So halten sich die meisten Menschen offenbar für überdurchschnittlich gute Autofahrer, glauben, dass sie gesünder und intelligenter sind und besser arbeiten. Sie schätzen auch ihre eigene Attraktivität höher ein, wie Forscher der Universitäten von Chicago und Virginia herausgefunden haben.

"Insgesamt dürften etwa 60 Prozent der Bevölkerung ein zu positives Selbstbild haben", schätzt Daniel Leising, Psychologe an der Technischen Universität Dresden.

Besser als der Durchschnitt

Wissenschafter der IE Business School in Madrid untersuchten, wie Studierende ihre Führungsqualitäten im Vergleich mit anderen bewerteten. Das Ergebnis: Sie gaben sich durch die Bank höhere Noten, ihre Mitstudierenden beurteilten sie realistischer.

Eine Studie, die mit Gefangenen durchgeführt und im "British Journal of Social Psychology" veröffentlicht wurde, zeigt: Auch sie sehen sich als moralischer, vertrauenswürdiger, zuverlässiger, mitfühlender, großzügiger, selbstkontrollierter und netter als ihre Mitgefangenen – und sogar als den Rest der Bevölkerung.

Mehr Selbstsicherheit

Die möglichen Vorteile dieser Tendenz zur Selbstüberschätzung werden im "Economist" beschrieben: "Die eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften überzubewerten kann einem Selbstbewusstsein geben und dabei helfen, Herausforderungen zu meistern." Das kann auch im Berufsleben helfen, wo Selbsteinschätzung mit Selbstvertrauen zusammenhängt und damit mit Erfolg.

"Wenn jemand, der seine Fähigkeiten überschätzt, sich für einen Job bewerben will, wird er das auf jeden Fall tun. Denn er ist überzeugt, den Anforderungen gewachsen zu sein. Mit ein bisschen Glück bekommt er den Job auch", sagt Psychologe Leising.

Minus: Das Ego wird zu groß

Allerdings besteht auch die Gefahr, über sein eigenes Ego zu stolpern. "Es ist ein zweischneidiges Schwert", sagt Margarita Mayo, die die Madrider Studie leitete und auch über Narzissmus in der Arbeitswelt forscht. "Narzisstische Führungskräfte klettern möglicherweise die Karriereleiter schneller hinauf, aber bescheidenere Chefs sind tendenziell kreativer, effizienter und öfter Rolemodels", sagt Mayo.

Ein möglicher Nachteil der Selbstüberschätzung ist auch, dass man die Notwendigkeit dazuzulernen verkennt. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman weist auch darauf hin, dass sie risikofreudiger macht – und die meisten die Rolle des Zufalls unterschätzen lässt.

Gründe für Selbstüberschätzung

So viel zu den Auswirkungen – was aber sind die Ursachen? Sie könnten eben in diesem Bedürfnis nach Selbstsicherheit liegen, heißt es im "Guardian". Möglicherweise habe man auch Dinge, die man tut, zu gut kennen- und schätzen gelernt, mutmaßt der Unternehmer Jason Olsen in der "Huffington Post". "Unsere Freunde, die Musik, die wir hören, die Speisen, die wir mögen, die Kleidung, die wir tragen – sie alle bedeuten etwas für uns", sagt Olsen in dem Artikel mit dem Titel "Where Are All the Below Average People?" – Wo sind all die Unterdurchschnittlichen? (lib, 1.8.2017)