Alessandro De Marchi: "Mir gefällt, wenn der Klang seinen vokalen Ursprung vermittelt, wenn ein Instrument zu singen vermag."

Foto: Sandra Hastenteufel

Innsbruck – So vor etwa 20 Jahren, als die Innsbrucker Festwochen von René Jacobs geleitet wurden, wäre es Alessandro De Marchi seltsam vorgekommen, mit dem Job des künstlerischen Leiters zu kokettieren. "Wenn ich damals geträumt hätte, hier Intendant zu sein, wäre ich wohl aus dem Bett gefallen." Nicht, dass ihm das Festival, dem er nun seit 2010 vorsteht, seinerzeit unbekannt gewesen wäre – De Marchi war längst im Spiel: Im Monteverdi-Jahr 1993, zum 350. Todestag des Komponisten, saß er bei Il ritorno d’Ulisse in patria am Cembalo.

"Als ich aber den Job antrat, hat man mir zu verstehen gegeben, dass die Latte sehr hoch liegt. Es war etwas beängstigend. Nachdem ich meine erste Premiere absolviert und eine unbekannte Barockoper ungekürzt in fünf Stunden präsentiert hatte, gab es 20 Minuten lang Standing Ovations. Da war mir klar: Ich durfte die Rolle übernehmen, die Jacobs lange innehatte." Nun, ein paar Jahre später, ist wieder ein Monteverdi-Jubiläum angesagt. Und zum 450. Geburtstag des Meisters aus Cremona wird De Marchi nun Il ritorno d’Ulisse in patria dirigieren.

In den vielen Jahren hat sich aber nicht nur an seiner Position manches geändert. Es ist für diesen Intendantenmusiker, der zwischen Dirigieren und Programmersinnen auch Forschung im Sinne der historisch informierten Musikpraxis betreibt, arbeitstechnisch leichter geworden. Es gilt ja Werke zu suchen. Das Innsbrucker Festivalkonzept speist sich aus bekannten Opera der Alten Musik – und Raritäten.

"Vor 20 Jahren musste ich in Bibliotheken fahren, um Material zu sondieren", so De Marchi. "Mittlerweile steht bei mir zu Hause auf dem Cembalo, der Kopie eines Instrumentes aus dem Jahr 1732, ein Macbook. Aus diesem nehme ich die Musikhandschriften, die ich durchspiele." Diese Bergungsarbeit bezüglich alter Notenschätze folgt aber der Erweckung der Partitur. Und diese ist für De Marchi ein Rätsel der Kommunikation zwischen den Kollegen, die sich fast einem mystischen Prozess hingeben.

Ein Klangideal

De Marchi hat dabei ein Klangideal als Dirigent: "Ich bin natürlich stilorientiert, jeder Komponist und jede Epoche braucht besondere Behandlung. Trotzdem spüre ich bei mir eine Tendenz: Mir gefällt es, wenn der Klang seinen vokalen Ursprung vermittelt. Wenn ein Instrument zu singen vermag und also diese ,Vokalität‘ hat, ist es in meinem Sinne."

Seltsamerweise, meint De Marchi, existieren diese Klangvorstellungen unabhängig von den Rahmenbedingungen. Ein Beispiel für das Mystische: Es gab eine Tournee nach Kanada mit der Academia Montis Regalis. Da in London ein Attentat passierte, wurde ein Handgepäckverbot erlassen, weshalb die Musiker des Ensembles ihre eigenen Instrumente nicht mitnehmen durften. "Um das Konzert nicht absagen zu müssen, liehen wir uns Instrumente – und diese waren wirklich sehr schlecht ..."

Die erste Probe wäre denn auch "katastrophal gewesen. Es wurde jedoch immer besser, beim Konzert wirkte schließlich alles wie gewohnt. Das zeigte mir: Der Klang ist als Ideal im Kopf." Es sei auch so, dass "jedes Orchester nach einer Weile annähernd jenen Sound produziert, den ich mir vorstelle. Es geht um das Ideal, und dieses ist auch mit jedem In strumentarium erreichbar."

De Marchi hat sich auf Alte Musik spezialisiert, aber als einseitig will er nicht betrachtet werden ("Schauen Sie in meinen Kalender!"). Natürlich hat er das alles studiert, aber er ist doch stilplural unterwegs. Auch als Jazzer war er einst nächtens tätig, sagt De Marchi und kommt über diese Themenbrücke auf die Improvisation zu sprechen. Es zeige sich, so De Marchi, dass sie auch in der Alten Musik viel stärker präsent war, als bisher angenommen wurde.

"Es weisen aktuelle Forschungen darauf hin, dass zu Monteverdis Zeit nicht nur solistisch, sondern sogar polyfon improvisiert wurde – wie im Dixiland! Es zeichne sich auch bei Beethoven ab, dass dieser bei seinen Improvisationen stilistisch noch viel avancierter und viel kühner war als in seinen Kompositionen", so De Marchi. Bis diese frischen Einsichten Alltag geworden sind, wird die heurige erste Premiere unter seiner Leitung (10. 8.) längst Geschichte sein, wie auch die Inszenierung der Ballettoper Pygmalion von Rameau.

Und die angesetzte Römische Unruhe oder Die edelmütige Octavia von Reinhard Keiser wird dann vielleicht noch immer keinen prominenten Part im Repertoire einnehmen können. Obwohl Keiser, so De Marchi, ein Könner war, den auch Händel schätzte. "Händel hat für seine letzte Oper Deidamia eine Ouvertüre von Keiser übernommen." Musikgeschichte kann ungerecht sein. (Ljubiša Tošić, 31.7.2017)