Das Rettungsschiff Vos Prudence von Ärzte ohne Grenzen bringt Flüchtlinge in den Hafen von Salerno. Die NGO wird ihre Einsätze im Mittelmeer fortsetzen.

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Annemarie Loof fordert mehr Unterstützung für Italien.

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Montagabend, nach drei Verhandlungsrunden, stand es fest: Die Mehrheit der neun im Mittelmeer tätigen NGOs lehnt den von der italienischen Regierung vorgegebenen Verhaltenskodex für die Seerettung von Flüchtlingen ab. Annemarie Loof, die die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer leitet, erklärt, warum es trotz Annäherungen nicht zu einer Einigung kam. Konsequenzen befürchtet sie deshalb aber keine.

STANDARD: Sie haben den Verhaltenskodex der italienischen Regierung zu Seerettungen im Mittelmeer am Montagabend nach drei Verhandlungsrunden nicht unterzeichnet. Warum?

Loof: Mehrere Regeln im Verhaltenskodex überschreiten für uns eine rote Linie. Italien hat den Kodex zwar noch einmal überarbeitet, doch die angesprochenen Punkte blieben unverändert.

STANDARD: Welche der insgesamt zwölf Punkte sind das?

Loof: Das größte Problem haben wir mit der Bestimmung, dass Schiffe die Überlebenden an einen sicheren Ort bringen müssen, anstatt sie an andere Schiffe zu übergeben. Wir sind mit größeren Schiffen im Mittelmeer unterwegs, die mehrere hundert Menschen aufnehmen können. Die sind natürlich langsamer als kleinere Rettungsschiffe, die schneller zu Menschen in Seenot gelangen, aber die Menschen nicht an Bord nehmen können. In Abstimmung mit der Seenotrettungsstelle in Rom stabilisiert das kleine Schiff die schiffbrüchigen Boote, bis ein größeres Schiff kommt und die Menschen aufnimmt. Mit dem Verhaltenskodex könnten die NGOs mit kleineren Schiffen überhaupt nicht mehr im Einsatz sein, weil sie nicht den Platz haben, um die Flüchtlinge in die Häfen zu bringen. Das würde automatisch bedeuten, dass mehr Menschen ertrinken.

STANDARD: Die Regel, dass italienische Polizisten an Bord der Rettungsschiffe gehen dürfen, soll auch ein großes Problem gewesen sein.

Loof: Wir haben nichts zu verstecken und sind offen dafür, dass Polizisten an Bord kommen. Aber wir betrachten unsere Schiffe als Krankenhaus, als sicheren Platz für Hilfsbedürftige, wo es für Waffen keinen Platz gibt. Das gilt für alle unsere Spitäler weltweit. Wir baten darum, dass nur unbewaffnete Beamte an Bord kommen. Das wurde aber abgelehnt.

STANDARD: Zwei NGOs, Moas und Save the Children, haben den Verhaltenskodex unterzeichnet, alle anderen haben ebenfalls verweigert. Was waren deren Beweggründe?

Loof: Die NGOs, die nicht unterschrieben haben, haben bei den drei Treffen in Rom die gleichen Bedenken wie wir angeführt. Bei den beiden anderen Organisationen kann ich nicht sagen, wie sie den Kodex interpretiert haben und wieso sie letztendlich ihr Okay gegeben haben.

STANDARD: Wie wird die italienische Regierung darauf reagieren? In dem Verhaltenskodex wurde ja unter anderem mit einer Blockade der italienischen Häfen gedroht.

Loof: Ehrlich gesagt denke ich nicht, dass es zu einer Blockade kommen wird. Italien hat bislang immer alle Flüchtlinge angenommen, die wir gerettet haben. Ich erwarte, dass das genauso fortgesetzt wird. Auch sonst glaube ich nicht, dass es bei unseren Rettungsmissionen, die wir fortsetzen werden, zu irgendwelchen neuen Hürden kommen wird. Ich habe auch nichts davon gehört, dass andere Hilfsorganisationen ihre Arbeit im Mittelmeer unterbrechen.

STANDARD: Unter welchen Bedingungen würden Sie Ihre Rettungsmissionen abbrechen?

Loof: Wir sind eine unabhängig agierende NGO, die in internationalen Gewässern unterwegs ist und sich an die Gesetze hält. Ich kann mir nicht vorstellen, wie uns jemand zwingen könnte, das nicht mehr zu tun. Ansonsten würden wir unsere Rettungsmissionen natürlich dann beenden, wenn die EU endlich ihre Verantwortung wahrnimmt und die Menschen im Mittelmeer rettet. Weil sie das nicht tut, entsteht eine Lücke, die wir zu füllen versuchen.

STANDARD: Die EU und Italien intensivieren ihre Bemühungen, die libysche Küstenwache zu stärken, damit diese Flüchtlingsboote abfängt und die Menschen nach Libyen zurückbringt. Wäre das ein guter Lösungsansatz?

Loof: Das ist absolut inakzeptabel für uns. Wir sind auch in Internierungslagern in Libyen im Einsatz, und die Flüchtlinge dort werden unmenschlich behandelt. Deshalb ist es für uns auch unvorstellbar, gerettete Menschen dort hinzubringen.

STANDARD: Den im Mittelmeer tätigen NGOs wird vorgeworfen, ein Pull-Faktor zu sein, also ein Anreiz für Flüchtlinge, die Überfahrt nach Europa zu wagen.

Loof: Das ist ein schwieriges Thema. Ich möchte das lieber von einer anderen Perspektive aus sehen und anstatt von einem Pull-Faktor von einem Push-Faktor reden. Viele sind nach Libyen gegangen, um Geld zu verdienen und dann wieder heimzukehren. Das war schon früher so. Nun aber sind die Zustände dort so schlecht, und wenn man dann noch in diesem Schleppernetzwerk gefangen ist, in deren Lagern, dann gibt es keine andere Möglichkeit mehr, als nach Europa zu flüchten. (Kim Son Hoang, 1.8.2017)