Ankara/Wien – Der eine sitzt weiter auf seinem Landgut in Pennsylvania, von dem anderen fehlt jede Spur – vielleicht ist er auch schon tot, so mutmaßte Bekir Bozdağ, bis vor kurzem noch Justizminister. Fethullah Gülen und sein angeblicher Vertrauter Adil Öksüz sind die zwei wichtigsten Angeklagten in einem weiteren Mammutprozess gegen mutmaßliche Putschisten, der am Dienstag in einem Gefängnis in der Provinz Ankara begonnen hat.

Doch andere Schlüsselfiguren dieses Staatsstreichs vom Vorjahr, der nach wenigen Stunden zusammengebrochen war, sitzen tatsächlich auf der Anklagebank: Akin Öztürk, der ehemalige Kommandant der türkischen Luftstreitkräfte, und vier Zivilisten, die zusammen mit dem verschwundenen Öksüz in der Putschnacht auf einer Militärbasis offenbar den Putsch mitorganisierten.

Der Luftwaffenstützpunkt Akıncı nahe der türkischen Hauptstadt Ankara gilt als die Kommandozentrale des Putschs vom 15. Juli 2016. Akin Öztürk und die anderen mutmaßlichen Putschisten hatten sich dort eingefunden. Armeechef Hulusi Akar wurde dorthin entführt. Einer der auf der Basis stationierten Flugverbände – die 141. Flotte – führte die Bombardierungen in Ankara durch, die an einem anderen Ort auf dem Stützpunkt – bei der 143. Flotte – zuvor entschieden worden waren.

Die fünf Zivilisten um Öksüz waren laut der Aussage eines der angeklagten Piloten dort. Ihre Anwesenheit gilt als der überzeugendste Beleg für eine Verbindung der Putschisten zur Bewegung des Predigers Gülen – anders als die möglicherweise unter Folter erzwungenen Bekenntnisse angeblicher "Gülenisten" unter den türkischen Offizieren.

Informationen über den Ablauf des Putschs stammen vielfach allein aus den Anklageschriften, in die türkische Journalisten Einsicht erhielten. Erst die Anhörung von Angeklagten in dem Dutzend der großen Putschprozesse macht das Bild nun vollständiger. Das nun in Sincar in der Provinz Ankara angelaufene Verfahren mit 480 Angeklagten soll nur bis 29. August dauern.

Unbekanntes Abendessen

Zu den bizarren neuen Details über die Putschnacht, die auch ein Jahr nach den dramatischen Vorfällen noch auftauchen, gehört das Abendessen zwischen Geheimdienstchef Hakan Fidan und Mehmet Görmez, dem Leiter des staatlichen Religionsamts Diyanet. Görmez erwähnte dieser Tage das Abendessen und gab an, Fidan habe ihm nichts von dem nur wenig später anrollenden Putsch gesagt. Aber Fidan, der wenigstens seit 16 Uhr an jenem Tag von den Vorbereitungen in der Armee wusste, kontaktierte auch erst nach 22 Uhr Sicherheitsleute von Präsident Tayyip Erdoğan. Die unklare Rolle des Geheimdienstchefs und sein Verbleib im Amt stützen die These von einem "kontrollierten Putsch", von dem die Staatsführung wusste und den sie dann politisch ausnutzte.

Görmez’ Rücktritt wurde am Montagabend offiziell bekanntgegeben. Der Diyanet-Leiter habe um seine frühzeitige Pensionierung gebeten, hieß es. Der 58-jährige Geistliche hatte vergangene Woche noch einen Bericht über die Gülen-Bewegung vorgestellt. Darin wurden Gülen "verdorbene Lehren" vorgeworfen. Das Religionsamt in der Türkei gilt zusammen mit den Schulen, Bildungsministerium und der Justiz als die von der Gülen-Bewegung am stärksten unterwanderte staatliche Einrichtung. Görmez wäre damit auch der erste hochrangige Staatsvertreter, der aus dieser systematischen Untergrabung des Staates eigene Konsequenzen zieht. Görmez war vor sieben Jahren auf den deutlich liberaler eingestellten Diyanet-Chef Ali Bardakoğlu gefolgt. Ein Nachfolger für Görmez stand am Dienstag offiziell noch nicht fest.

2080 Festnahmen im Juli

Die seit dem Putschversuch anhaltenden Säuberungswellen in der öffentlichen Verwaltung und der Privatwirtschaft in der Türkei gingen auch im Vormonat Juli weiter. Insgesamt rund 2.080 Personen wurden festgenommen; die Hälfte von ihnen kam in Untersuchungshaft, darunter die Chefin von Amnesty International in der Türkei und weitere sieben Menschenrechtler. (Markus Bernath, 1.8.2017)