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Die Briten wenden sich von Europa ab, aber auch von ihrer Elite – so auch von Regierungschefin May.

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Der ausgebrannte Grenfell Tower – ein Symbol der politischen Ohnmacht in Großbritannien.

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Ins London des Sommers 2017 scheint Frieden eingekehrt zu sein. Die Straßen gehören den Touristen, die Einheimischen finden Erholung von Terroranschlägen, der Brandkatastrophe im Grenfell Tower von Kensington und den hässlichen Debatten der vergangenen Monate, nicht zuletzt der über den Brexit.

Freilich scheinen die meisten zu spüren: Es handelt sich bloß um eine Atempause. Terrorattacken bleiben jederzeit möglich, die Wachsamkeit hat in dieser Beziehung nicht nachgelassen. An den großen Museen, vor Konzertsälen wie der riesigen Albert Hall, wo die wunderbaren BBC-Promenadekonzerte gespielt werden, werden Taschen und Koffer gründlich kontrolliert; beim Parlament und vor den königlichen Palästen gehören Polizisten mit Maschinenpistolen zum Straßenbild.

Verbitterung und Misstrauen

Wer Albert Hall und das Museenviertel hinter sich lässt und nach Nordwesten geht, dem verschlägt der Anblick des ausgebrannten Grenfell-Hochhauses noch immer den Atem. Wie ein gewaltiger fauler Zahn im Antlitz wohlhabender Gutbürgerlichkeit erinnert es auf brutale Weise an das andere London: an die Millionen von Einheimischen und Zuwanderern, deren Lebensstandard in den vergangenen Jahren gesunken ist, während die Reichen immer reicher wurden. Den sozialen Wohnbau haben Regierungen unterschiedlicher Couleur seit Jahrzehnten vernachlässigt.

Was von den Meetings der Grenfell-Überlebenden mit dem von der Regierung eingesetzten unabhängigen Untersuchungsleiter Martin Moore-Bick an die Öffentlichkeit dringt, zeugt von tiefer Verbitterung und unversöhnlichem Misstrauen der Betroffenen gegenüber der gesellschaftlichen Elite. Geduldig erläutert der pensionierte Richter seinen Auftrag: zu klären, wie es zu dem Großbrand kommen konnte, und rasch Vorschläge zu unterbreiten, wie Katastrophen in Zukunft vermieden werden können. Die Menschen aber schreien nach Rache, wollen die Verantwortlichen wegen Mordes oder zumindest wegen Totschlags angeklagt sehen.

Manche Forderungen schießen übers Ziel hinaus. Die Qualifikation des weißen Richters wurde von Grenfell-Bewohnern – zumeist Vertreter anderer Ethnien – und deren Propagandisten so abfällig in Zweifel gezogen, dass sich rasch der Eindruck umgekehrten Rassismus festsetzte. Sonderlich schlau war es allerdings nicht, dass sich unter Moore-Bicks fünf Beratern lediglich ein Vertreter ethnischer Minderheiten befindet.

Da präsentiert sich die Elite – von Premierministerin Theresa May bis zur Bezirksregierung – merkwürdig ungeschickt, abwehrend selbst vernünftig begründeter Skepsis gegenüber, spaltend statt integrierend.

Ein tiefer Riss

Zunächst das Schottland-Referendum, dann die Brexit-Abstimmung, zuletzt auch die Unterhauswahl haben bestätigt: Die britische Gesellschaft ist tief gespalten, zwischen Jungen und Alten, zwischen Wohlhabenden und sozial Schwachen, zwischen dem prosperierenden Süden rund um London und den stolzen Nationen Schottland und Wales sowie Regionen in Nord- und Mittelengland, die den industriellen Kahlschlag der 1980er-Jahre bis heute nicht ausgleichen konnten.

Weder Regierung noch Opposition haben darauf eine Antwort. Die Elite verstärkt damit den Eindruck des Kontrollverlustes und der Ratlosigkeit. Der Schriftsteller Robert Winder fühlt sich an die 1970er-Jahre erinnert, an Streiks, soziale Unruhen, einen diffusen Zorn. Sein Land wirke auf ihn wie ein Auto, "das auf die Klippe zusteuert. Anstatt auf die Bremse zu latschen, wird unentwegt gehupt."

Tatsächlich haben im öffentlichen Diskurs Schmähreden die rationale Erörterung ersetzt. Insbesondere weibliche Abgeordnete erhalten häufig Drohungen von Fanatikern, sie würden "wie Jo Cox enden" – die Labour-Parlamentarierin wurde eine Woche vor dem Brexit-Referendum 2016 auf offener Straße ermordet.

Scharfe Rhetorik

Auch Spitzenpolitiker heizen die Rhetorik an. Labour-Finanzsprecher John McDonnell beschuldigte die Verantwortlichen der Grenfell-Umbauarbeiten des "Mordes". Die Kabinettsmitglieder Andrea Leadsom und Liam Fox fordern von der BBC "mehr Patriotismus". Das Boulevardblatt Daily Mail brandmarkte Richter am High Court als "Volksfeinde" und forderte von May, Brexit-Saboteure zu "vernichten".

Spätestens im September wird der brutale Schlagabtausch im Parlament weitergehen. Die Themen bleiben brisant: neue Antiterrorgesetze, sozialer Wohnbau. Vor allem aber stehen den Briten endlose Debatten darüber ins Haus, wie der Rückzug vom Kontinent doch noch so organisiert werden kann, dass er nicht dem Chaos des Frühsommers 1940 gleicht: Insofern wirkt das Timing des kürzlich in die Kinos gekommenen Films Dunkirk von Christopher Nolan, in dem es um die Vermeidung einer militärischen Katastrophe im Zweiten Weltkrieg geht, geradezu bitter ironisch.

Kein historischer Kontext

Vorschnelle Parallelen zu den 77 Jahre zurückliegenden Ereignissen zu ziehen wäre albern: Der Brexit hat nichts mit Krieg zu tun. Immerhin ist eines verblüffend: Der Film verweigert sich jedem Versuch, Dünkirchen einen historischen Kontext zu geben. Stattdessen konzentriert er sich gänzlich auf die Briten. Franzosen spielen winzige Nebenrollen, deutsche Soldaten tauchen nur gegen Schluss als Silhouette auf.

Ähnlich geht es im London des Jahres 2017 zu: Die Briten sind sich selbst genug. Wie schon vor dem Referendum 2016 spielt auch jetzt die Debatte auf dem Kontinent kaum eine Rolle. Europäische Politik bleibt unsexy, Delegationen anderer Parlamente berichten von "skandalöser Unkenntnis" ihrer britischen Pendants.

Ignoranz und Hochmut

Die Ignoranz paart sich, wie so häufig, mit Hochmut. Es wird zwar selten offen ausgesprochen, aber viele Briten halten sich für eine Ausnahmeerscheinung, was Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit von Korruption angeht.

Ob sich nach den jüngsten Auseinandersetzungen im Kabinett über den besten Brexit-Kurs eine Trendwende abzeichnet? Die politisch bestens vernetzte Medientrainerin Scarlett MccGwire glaubt daran: "Jetzt sieht alles nach Stillstand aus. Das ist doch ein echter Fortschritt", sagt sie und lacht. Ihren schwarzen Humor haben die Londoner noch nicht verloren. Irgendwie beruhigend. (Sebastian Borger aus London, 4.8.2017)