Die rund 4.000 Jahre alten Überreste des Palastes von Knossos vermitteln einen vagen Eindruck von der Größe der minoischen Kultur. Ihre Herkunft konnte nun anhand von DNA-Untersuchungen bestimmt werden.

Foto: Thomas Bergmayr

Boston – Sie werden gerne als Grundlage der europäischen Kultur genannt: Der Ursprung der bronzezeitlichen minoischen Kultur auf Kreta und ihrem zeitlich etwas später angesiedelten Gegenstück, den Mykenern auf dem griechischen Festland, war allerdings lange Zeit ein Rätsel. Genetische Untersuchungen haben nun erstmals konkrete Anhaltspunkte über die Herkunft dieser Kulturen geliefert.

In der europäischen Frühgeschichte nehmen Minoer und Mykener einen speziellen Platz ein. Die minoische Kultur auf Kreta florierte zwischen 2600 und 1100 vor unserer Zeitrechnung und brachte die Linear-A-Schrift hervor, was sie zur ersten alphabetisierten Gesellschaft Europas machte. Da diese Schrift bisher nicht entschlüsselt werden konnten, sind die Ursprünge der Sprache, die sich hinter den rätselhaften Schriftzeichen verbirgt, unbekannt. Man geht jedoch davon aus, dass sie sich vom frühen Griechisch unterscheidet.

Die mykenische Zivilisation um 1600 bis 1100 vor unserer Zeitrechnung hat ihren Ursprung auf dem griechischen Festland und kontrollierte schließlich auch die nahegelegenen Inseln, einschließlich Kreta. Die mykenische Linear-B-Schrift ist eine Frühform der griechischen Schrift. Trotz der reichen archäologischen Vergangenheit und textbasierten Überlieferungen waren die Ursprünge der Minoer lange Zeit rätselhaft.

Ableger einer älteren Kultur?

Ihre kulturellen Innovationen, wozu neben dem ersten europäischen Schriftsystem, riesige Palastkomplexe und beeindruckende Kunstwerke zählen, scheinen isoliert auf Kreta entstanden zu sein. Dies gab Anlass zu Spekulationen, dass die Minoer aus einer in einer anderen Region gelegenen, weiter entwickelten Kultur in die Ägäis eingewandert sein mussten. Die Mykener mit ihren Wurzeln auf dem griechischen Festland scheinen viel von der minoischen Technik und Kultur übernommen zu haben.

Es ist jedoch unklar, in welcher Verbindung beide Gruppen zueinander standen. Zur Beantwortung dieser Fragen hat ein internationales Forschungsteam die genomweiten Daten von 19 Personen analysiert, darunter Minoer, Mykener, ein vom griechischen Festland stammendes steinzeitliches Individuum sowie bronzezeitliche Menschen aus Südwestanatolien. Durch einen Vergleich dieser Daten mit früher veröffentlichten Daten von fast 3.000 anderen Individuen, sowohl aus früheren Epochen als auch aus der modernen Zeit, konnten die Wissenschafter schließlich die Beziehungen zwischen diesen Gruppen klären.

So fanden die Forscher heraus, dass die Minoer nicht aus einer entfernten Zivilisation einwanderten, sondern eigentlich Einheimische waren, die von den ersten neolithischen Bauern Westanatoliens und der Ägäis abstammten: Bonzezeitliche Minoer, Mykener und ihre anatolischen Nachbarn teilten den Großteil ihrer genetischen Abstammung mit einer jungsteinzeitlichen Bevölkerungsgruppe Anatoliens und eine kleinere Komponente mit weiter östlich im Kaukasus und im Iran beheimateten Bevölkerungsgruppen. Bisher nahm man an, dass diese östlichen Abstammungslinien durch Hirtenvölker der Steppen aus dem Norden nach Europa gelangten, die selbst ebenfalls östlicher Abstammung waren.

Einwanderer aus dem Osten

Neben der engen Verwandtschaft zwischen Minoern und Mykenern stellten die Wissenschafter jedoch auch einige spezielle Unterschiede fest. So wiesen die Minoer zwar die östliche Abstammung aber kein gemeinsames Erbgut mit den nördlichen Steppenvölkern auf. Bei den Mykenern findet sich dagegen sowohl östliches als auch nördliches Erbgut. Das lässt darauf schließen, dass das östliche genetische Erbe aus dem Kaukasus und dem Iran mindestens in einigen Fällen eigenständig nach Europa gelangte, vielleicht im Zusammenhang mit einer bisher unbekannten Wanderungsbewegung. Dieses Ergebnis zeigt auch, dass die Migration der Steppenhirten aus dem Norden bis auf das griechische Festland führte, aber die Minoer auf Kreta nicht erreichte.

Die Studie trägt dazu bei, das Zeitfenster für die Ankunft der östlichen und nördlichen Vorfahren genauer eingrenzen zu können. "Die genetischen Proben aus dem Neolithikum aus Griechenland bis hin zur endneolithischen Zeit rund 4100 vor unserer Zeitrechnung enthalten keine Spuren der Abstammung von beiden Bevölkerungsgruppen. Das lässt vermuten, dass die Vermischung, die wir erkennen können, wahrscheinlich im Zeitfenster des vierten bis zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung aufgetreten ist", erläutert David Reich von der Harvard Medical School sowie dem Broad Institute, ein weiterer Leiter der Studie. Um den Zeitpunkt dieser Ereignisse noch genauer bestimmen zu können, sind weitere Proben aus umfassenderen Zeiträumen und geografischen Regionen erforderlich.

Enge Verwandtschaft mit modernen Griechen

Moderne Griechen zeigen einige zusätzliche Vermischungen mit anderen Gruppen und eine entsprechende Abnahme der Abstammungsmerkmale von den neolithischen Anatoliern. Zugleich sind sie mit den Mykenern der Bronzezeit eng verwandt. Das lässt vermuten, dass es eine hohe Bevölkerungskontinuität in Griechenland gegeben hat, diese aber nicht isoliert war.

"Es ist bemerkenswert, wie beständig die Abstammung der ersten europäischen Bauern in Griechenland und anderen Teilen Südeuropas ist. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerungsgruppen dort vollständig isoliert lebten. Vor der Zeit der Minoer und Mykener gab es mindestens zwei weitere Migrationsbewegungen in der Ägäis und später zusätzliche Vermischungen. Die Griechen waren immer im Wandel begriffen und erwarben im Laufe der Jahrhunderte genetische Anteile aus verschiedenen Migrationsereignissen, was aber das genetische Erbe der Bevölkerungsgruppen aus der Bronzezeit nicht ausgelöscht hat", erklärt Iosif Lazaridis von der Harvard Medical School, Erstautor der in "Nature" erschienenen Studie.

Die Erkenntnisse der Studie tragen dazu bei, einige Aspekte der Beziehungen im Griechenland der Bronzezeit zu erhellen. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Die Wissenschafter hoffen, im Rahmen künftiger Forschungsprojekte das Zeitfenster des möglichen neuen genetischen Zuflusses auf die östliche Abstammungslinie und den Ablauf der Ankunft der nördlichen Steppennachkommen – allmählich im Laufe der Zeit oder in Form einer Massenmigration – erhellen zu können. (red, 5.8.2017)