Bild nicht mehr verfügbar.

Generationen von Schülern und Studenten sind mit den iPhone-großen Bändchen aufgewachsen: Reclams Universal-Bibliothek, die unter anderem bei Brecht, Musil und Doderer Erwähnung fand.

Foto: Michael Probst / AP / dapd

Dass eine bestimmte Buchreihe in einem Roman erwähnt wird, kommt nicht gerade häufig vor. Theodor Fontane notiert in seinem Alterswerk Mathilde Möhring über die Hauptfigur, den Bürgermeistersohn Hugo Großmann: "Was er las, waren Romane, besonders auch Stücke, von denen er jeden zweiten, dritten Tag mehrere nach Hause brachte; es waren die kleinen Reclam-Bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehn."

Fontane hat seinen Roman 1891 geschrieben. Damals gab es seit genau 24 Jahren Reclams Universal-Bibliothek – die "kleinen Bändchen" waren innerhalb der bürgerlichen Kultur bereits ein Begriff.

Die neue Buchreihe verdankt ihre Existenz nicht zuletzt ökonomischen Erwägungen: Am 9. November 1867 war die Schutzfrist für die Werke jener Autoren erloschen, die vor dreißig und mehr Jahren gestorben waren. Damit konnten Klassiker wie Goethe, Schiller oder Lessing honorarfrei legal nachgedruckt werden.

Neben anderen Verlegern nutzte auch Anton Philipp Reclam (1807-1896) diese Chance, um kostengünstige Bücher zu produzieren. Bereits mit 21 Jahren hatte Reclam, der einer Buchhändlerfamilie entstammte, in Leipzig einen eigenen Verlag gegründet. Das Programm enthielt klassische und aktuelle Titel, wobei ein Schwerpunkt auf linksliberalen und oppositionellen Schriften lag.

Der Verleger hatte ein Faible für die jungdeutsche Bewegung. Er veröffentlichte zum Beispiel einige frühe Bücher von Heinrich Laube, die dann Ende 1835 zusammen mit den anderen Publikationen des Jungen Deutschland von der Bundesversammlung verboten wurden.

Universeller Anspruch

Universal-Bibliothek – die neue Reihe betont schon im Titel einen universellen Anspruch im Sinne von Goethes Begriff der Weltliteratur: Die Auswahl soll die Grenzen von Raum und Zeit überwinden – die Werke der Antike sollen ebenso Aufnahme finden wie aktuelle Texte aus fremden Sprachen und fernen Nationen.

Der hohe Anspruch zeigt sich gleich am Beginn: Die Reihe wird eröffnet mit dem ersten Teil von Goethes Faust. Der zweite Teil des Faust und Lessings Nathan der Weise schließen sich an. Mit Theodor Körners Gedichtband Leyer und Schwert wird ein Dokument aus den Freiheitskriegen abgedruckt.

Es folgen Werke von Shakespeare, Müllner, Hauff, Kleist, wieder Shakespeare und Lessing, dann von Börne und – als Band zwölf – Schillers Wilhelm Tell, der bis heute mit mehr als zehn Millionen verkauften Exemplaren der Bestseller Nummer eins geblieben ist. Bis heute sind die Theaterbesucher eine wichtige Zielgruppe.

Für den immensen Absatzerfolg, mit dem Reclam die Klassikerreihen konkurrierender Verlage bald überflügelte, gibt es mehrere Gründe: Die Bände waren sorgfältig ediert, inhaltlich abgeschlossen und einzeln zu erwerben (keine Subskription, kein Abonnement). Moderne Produktionstechniken wie Rotationsdruck und Stereotypie machten Massenauflagen und damit niedrige Verkaufspreise möglich: Pro Nummer wurden nur zwei Silbergroschen verlangt, und dieser Preis konnte ein halbes Jahrhundert gehalten werden. Er galt für einen Umfang von durchschnittlich fünf Bogen (80 Seiten); längere Texte wurden als Mehrfachnummern angeboten.

Wichtig war auch die optische Wiedererkennbarkeit: Die Gestaltung der broschierten Taschenbücher im Kleinformat wandelte sich nur in kleinen Schritten, sodass der Reihencharakter über die Jahrzehnte sichtbar blieb und die Leserbindung förderte.

Emporlesen, nicht downloaden

Thomas Mann konstatierte treffend in seiner Festrede zum hundertjährigen Bestehen des Verlags im Jahre 1928, kurz bevor er selbst den Nobelpreis für Literatur erhielt: "Reclam glaubte an die Nachfrage, den Hunger der breiten Massen des deutschen Volkes nach dem Guten, nach Wissen, Bildung, Schönheit oder doch geistig anständiger Unterhaltung, und dieser Glaube, mit Vorsicht erworben, mit Vorsicht betätigt, wurde nicht enttäuscht. Seine Firma erstarkte, er verdiente Geld, sein sozialer Idealismus hatte sich als geschäftsklug erwiesen."

Anton Philipp Reclam und sein Sohn Hans Heinrich als späterer Teilhaber der Firma hatten den richtigen Riecher: Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft war vor allem der Rohstoff Bildung gefragt. "Wissen ist Macht" – die Leitformel, die der Philosoph Francis Bacon bereits 1597 in der ersten Ausgabe seiner Essays formuliert hatte, wurde wiederentdeckt.

"Volksbildung" lautet der aktuelle Imperativ: Volkshochschulen werden gegründet, Volksbüchereien eröffnet, Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereine und auch die langsam entstehenden politischen Parteien engagieren sich hier. "Emporlesen" heißt die Devise (und nicht "downloaden" wie heutzutage).

Vater und Sohn Reclam erkennen die Nachfrage und liefern das entsprechende Angebot. Die Universal-Bibliothek hat einerseits das schon mehr oder weniger etablierte Bildungsbürgertum im Blick, andererseits die sozialen Aufsteiger und die politisch sensiblen Reformer.

Kein Wunder, dass die Textauswahl sich stark am Bedarf von Schule und Studium orientiert – und hier wiederum selbst Kanon bildend wirkt. Pflichtlektüren für Schulklassen und Universitätsseminare garantieren eine dauerhafte Nachfrage, die durch Nachdrucke befriedigt wird. Hinzu kommt ein innovatives Marketing: Am Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurden eigens Bücherautomaten konstruiert, die an stark frequentierten Plätzen eine Auswahl von jeweils zwölf verschiedenen Bänden anbot.

Für Buchhändler gab es spezielle Präsentationsschränke, und das neueste Gesamtverzeichnis offeriert eine "Reclam Universal-Kulturtasche" aus Kunstleder (Werbetext: "Der wahre Reclam-Fan hat bekanntlich immer ein UB-Bändchen dabei – oder auch zwei").

Gelbe und andere Reihen

Das Programm der Universal-Bibliothek hat in den 150 Jahren seit der Gründung immer weiter expandiert, die Gesamtzahl der erschienenen Titel ist inzwischen unüberschaubar. An die Seite der Literatur traten neue Verlagsprodukte: philosophische Quellentexte sowie Sachbücher und Nachschlagewerke zu Musik und Theater, Film und Medien, Kunst und Architektur, Geschichte und Religion, Naturwissenschaft und Technik.

Die gelbe Reihe der Textausgaben wurde längst ergänzt durch spezielle Reihen mit andersfarbigem Cover. Einige Ausgaben erschienen nicht nur in broschierter Form, sondern auch als Leinen- oder Lederbände, teilweise sogar in Luxusversion mit Goldschnitt.

Das Verlagsprogramm hat auch inhaltlich manche Wandlungen erlebt. Ab 1920 wurden vermehrt Werke zeitgenössischer Schriftsteller aufgenommen, die noch tantiemenpflichtig waren. Während der Zeit des "Dritten Reiches" mussten jüdische und politisch unerwünschte Autoren aus dem Programm genommen werden. Ihre Werke fielen teilweise der Bücherverbrennung zum Opfer.

Die weitere Produktion passte sich teilweise den Vorgaben der nationalsozialistischen Einheitspartei an, versuchte aber andererseits das traditionelle Profil so weit wie möglich zu wahren. Nach einigen mageren Jahren bringt paradoxerweise der Krieg einen finanziellen Aufschwung: Die Feldpostausgaben, die in speziellen Behältern an die Front gelangten, waren bei den Soldaten begehrt.

Welche Popularität die Universal-Bibliothek erlangt hatte, zeigt sich auch daran, dass mehr als dreißig antifaschistische Tarnschriften im vertrauten Gewande der Reclam-Bände illegal verbreitet wurden.

Geteilter Verlag

Nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht nur das Land, sondern auch der Verlag geteilt: Das Stammhaus in Leipzig wurde zeitweise als Volkseigener Betrieb weitergeführt und schließlich 2006 aufgelöst. Der westdeutsche Zweig des Verlages hat seit 1947 seinen Sitz in Stuttgart und seit 1980 im nahe gelegenen Ditzingen. Während der deutschen Teilung erschienen zwei Versionen der Universal-Bibliothek, wobei in Ostdeutschland besonders die proletarisch-sozialistische Literaturtradition gepflegt wurde.

Manche der noch immer aktiven Verlage in Deutschland oder Österreich sind deutlich älter als Reclam. Aber keiner hat eine Buchreihe so lange am Leben erhalten und immer weiter ausgebaut. Der aktuelle Jubiläumskatalog verzeichnet ungefähr 3000 Titel der Universal-Bibliothek und 500 weitere Bände.

Die Reihe ist längst zu einer Marke geworden. Auf der Buchmesse 1992 schwärmte der Schriftsteller Ludwig Harig: "Von Reclam habe ich gelernt, was eine Bibliothek und was das Universale ist." Selbst in der politischen Polemik hat die Verlagsproduktion ihren Platz gefunden: So beschimpfte der bayerische CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1976 Kollegen aus der Schwesterpartei CDU als "Reclam-Ausgabe von Politikern".

Generationen von Schülern und Studenten sind mit den iPhone-großen Bändchen der Universal-Bibliothek aufgewachsen. Diese Reihe wird nicht nur in diversen literarischen Werken erwähnt, etwa von Bertolt Brecht, Robert Musil und Heimito von Doderer – auch in der bildenden Kunst, im Theater und in der Werbung hat sie Beachtung gefunden und ist längst zu einem Teil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. (Walter Hömberg, Album, 6.8.2017)