Shirin Neshat interpretiert Ägypten als Hybrid aus zwei Kulturen.

Foto: Imago / Rudi Gigler

STANDARD: "Aida" ist Ihre allererste Opernregie überhaupt. Kannten Sie diese Oper, bevor Sie das Angebot von Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser bekamen?

Neshat: Ich muss gestehen, nein. Ich habe bis dahin überhaupt wenige Opern gesehen, kannte auch die Geschichte von Aida nicht. Natürlich habe ich sie dann studiert, mich mit der Problematik vertraut gemacht. Viele Nahost-Intellektuelle, die ich sehr schätze, haben gesagt, ich würde mit dem Feuer spielen. Ich ging an das Projekt ohne vorgefasste Meinung heran.

STANDARD: Wie lange hatten Sie Zeit zu überlegen, ob Sie zusagen?

Neshat: Ich traf mich mit Markus Hinterhäuser zum Lunch, und ich fragte mich, was er wohl von mir wolle. Ich vermutete, dass er mich bitten würde, mit einem der Regisseure zusammenzuarbeiten. Als er mir vorschlug, eine Oper zu inszenieren, dachte ich, er mache einen Scherz. Und sagte als erste Reaktion, ich könne es nicht. Doch gleich nach dem Essen gingen wir in ein Plattengeschäft und hörten eine Aufnahme von Muti an. Als Nächstes kam Hinterhäuser zu mir nach New York, und wir trafen Riccardo Muti. Ich hatte gar nicht viel Zeit nachzudenken. Ich hörte die Musik, las die Geschichte und dachte schließlich: Das ist ja gar nicht so weit entfernt von dem, was ich sonst mache.

STANDARD: Dass Text und Musik den gestalterischen Rahmen vorgeben, dürfte Ihnen entgegenkommen? Sie haben ja einmal gesagt, dass Sie sich für Ihre Kunst selbst Grenzen setzen.

Neshat: Stimmt. Ich arbeite am besten und kreativsten innerhalb bestimmter Grenzen. Obwohl ich nicht im Iran lebe und daher auch keine Probleme mit Zensur oder Ähnlichem habe, mich also frei ausdrücken und bewegen kann, habe ich gelernt, mich gewissermaßen selbst zu zensurieren. Auch in der Fotografie oder im Film habe ich meine Parameter entwickelt, innerhalb derer ich große Freiheit habe. In dem Augenblick, in dem man sich an bestimmte Limits hält, ist man freier.

STANDARD: Das erinnert an Mönche, die sagen, erst strikte Disziplin und Regeln eines klösterlichen Tagesablaufs ermöglichten geistige und spirituelle Freiheit.

Neshat: Interessant, dass Sie das sagen. Denn auch ich bin ein sehr disziplinierter Mensch, ich wiederhole Dinge, schminke mich immer gleich, esse das gleiche Essen. Ich bin eine Nomadin, in meinem Leben ändert sich viel, aber es gibt bestimmte Dinge, gewisse Grenzen, die ich mir auch in meinem Lebensstil auferlege.

STANDARD: Ihre Arbeit ist sehr konzeptuell, oft beschränkt auf Schwarz und Weiß, gleichzeitig sehr poetisch. Wie sehr wird sich diese Ästhetik in der Oper wiederfinden?

Neshat: Ich glaube, es gibt viele Ähnlichkeiten mit meinen früheren Arbeiten. Die Monumentalität bei Aida, die jeder liebt, reduziere ich. Unsere Bühne ist einerseits futuristisch und modern, andererseits aber auch eine Reminiszenz an ägyptische Architektur. Sie repräsentiert in ihrer Einfachheit und ihrem Minimalismus Macht und zelebriert gleichzeitig das, was an der alten ägyptischen Kultur und Kunst so großartig ist. Es gibt viele Choreografien, bei denen ich auf alte Videoarbeiten zurückgreife. Auch den Kostümen haben wir uns möglichst minimalistisch und poetisch genähert. Die Priester, Fanatiker, Muslime tragen Schwarz, die Priesterinnen sind weiß, Amneris und die Äthiopier in Primärfarben gekleidet, Aida in Grauschattierungen.

STANDARD: In einer Pressekonferenz sagten Sie, Sie wollten "Aida" aus westlicher Sicht erzählen. Das klingt erstaunlich aus dem Mund einer gebürtigen Iranerin.

STANDARD: Ich bin vielleicht die beste Kandidatin, um beide Seiten – den Westen, aber auch den Teil der Welt, aus dem ich komme – kritisch zu sehen. In den USA, wo ich lebe, werden Muslime durch die Trump-Administration immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Gleichzeitig gibt mir dieser Teil der Welt Sicherheit, hier kann ich meine Kunst frei ausüben, dafür bin ich dankbar. Andererseits verteidige ich ein Land, das ich vor vielen Jahren verließ und das mich nie wieder willkommen heißen würde. Ich befinde mich genau im Zentrum zwischen den beiden Welten. Wenn wir Ägypten verstehen sollten, dann als Hybrid zwischen nahöstlicher und westlicher Kultur. Ich möchte mit Aida auf eine sehr künstlerische Weise eine zeitlose Geschichte erzählen, die von autoritärer Macht und religiösem Fanatismus handelt und von drei Individuen, die ganz fundamental ausdrücken, was Menschsein bedeutet.

STANDARD: Welche aktuelle Sichtweise haben Sie auf die Äthiopier?

Neshat: Die äthiopischen Gefangenen waren unschuldig, wurden aber wie Barbaren und Sklaven behandelt. Ihr Schicksal erinnert mich an Flüchtlinge heute, die unter dem Generalverdacht des IS-Terrorismus stehen. Dabei sind sie Opfer. Ich habe für die Videoeinspielungen wirklich Flüchtlinge genommen. Wenn Anna Netrebko vor diesen Menschen singt: Das bricht einem das Herz.

STANDARD: Ist Ihre Arbeit ideologisch grundiert?

Neshat: Nein, sie ist emotional, nicht ideologisch. Ich möchte die Menschen berühren, das rationelle Verstehen ist zweitrangig. Kunst ist für mich ein Produkt der Fantasie, sie handelt nicht von der Realität. Ich bin an dem, was man Wahrheit nennt, nicht interessiert. Sondern ich will etwas schaffen, das die Zeit überdauert. Ich spreche zum Beispiel über den Iran und die Frauen im Iran, aber ich spreche nicht nur über sie, sondern über die Welt. Die Verwendung von Allegorien und einer metaphorischen Sprache öffnet Möglichkeiten, etwas zu transzendieren.

STANDARD: Erzählt "Aida" auch eine feministische Geschichte?

Neshat: Ich denke, ja. Obwohl die Mehrheit Männer sind, handelt die wesentliche Geschichte von zwei Frauen. Wobei nicht so sehr ihr Frausein an sich wichtig ist als vielmehr die Tatsache, dass sie eine radikale Idee von Individualität verkörpern, rebellisch sind und sich nach etwas Urmenschlichem sehnen: Liebe.

STANDARD: Gibt es einen Unterschied zwischen nahöstlichen und westlichen Feministinnen?

Neshat: Unbedingt! Obwohl ich länger im Westen als in meiner Heimat gelebt habe, spüre ich eine Affinität zu einem östlichen Feminismus, etwa der iranischen Gesellschaft. Da geht es nicht um Gleichheit oder Wettkampf zwischen Männern und Frauen. Frauen wollen nicht wie Männer sein. Was sie wollen, ist, ihre eigenen Rechte zu haben und dass ihre Stimmen gehört werden. Aber sie wollen feminin bleiben und ihre Position im privaten wie öffentlichen Leben festigen.

STANDARD: Wie Aida befinden Sie sich mehr als die Hälfte Ihres Lebens im Exil, allerdings mit einem großen Unterschied: Sie sind frei, Aida ist Sklavin.

Neshat: Ja, ich habe Freiheit. Aber bin ich wirklich frei? Das ist eine interessante Frage. Es gibt Träume und Hoffnungen, die ich mir nie erfüllen können werde, weil ich im Exil lebe. Ich kann meine Familie, meine Heimat nicht sehen. Ich bin frei, kein Flüchtling, habe einen Pass. Aber psychologisch bin ich nicht frei.

STANDARD: Sie haben Ihr künstlerisches Repertoire Schritt für Schritt erweitert: Zeichnung, Fotografie, Performance, Film, nun Oper. Was kommt als Nächstes?

Neshat: Ich weiß nicht, ob ich weiter Opern machen möchte, das ist ja nun wirklich ein Experiment. Aber ich habe mich in diese Kunstform verliebt. Durch die Arbeit in einem neuen Medium fühle ich mich wie eine junge Künstlerin. Ich bin vom Charakter her eine ruhelose Person. Etwas zu tun, was neu und experimentell ist, schärft mein Bewusstsein. Und ich entdecke wieder neue Seiten an mir. (Interview: Andrea Schurian, 5.8.2017)