Es war eine außergewöhnliche Begräbnisfeier, die am 9. September in Mountain Meadows im Süden des US-Bundesstaates Utah abgehalten wurde.

Statt eines Sarges wurde nur eine schlichte Holzschatulle beigesetzt – diese enthält den Schädel eines unter zehn Jahre alten Kindes. Es handelt sich um den letzten Überrest eines Massenmordes: vor 160 Jahren, am 11. September 1857, massakrierte eine Mormonen-Miliz zwischen 120 und 140 Angehörige eines Siedlertrecks. Das Massaker von Mountain Meadows ist eines der blutigsten Gewaltverbrechen der US-Geschichte – und dennoch sind die Ereignisse nur wenigen bekannt.

Erst in den jüngsten zwei Jahrzehnten hat die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage", wie sich die Mormonen nennen, mit der Aufarbeitung ihrer unheiligen Geschichte begonnen – nach eineinhalb Jahrhunderten des Leugnens und Ignorierens. Zu der Beisetzung versammelten sich nun die Nachfahren der Opfer und der Täter zum gemeinsamen Gedenken.

Ein Steinhügel erinnert heute als Mahnmal an den Massenmord von Mountain Meadows.
Foto: Wikimedia/Mangoman88

Blutsühne

Der nach den Anführerfamilien benannte Baker-Fancher-Siedlertreck aus Arkansas hatte auf seinem Weg nach Kalifornien das Utah-Territorium von Norden nach Süden durchquert – zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. US-Präsident James Buchanan war zu Ohren gekommen, dass der Gouverneur des Utah-Territoriums Brigham Young als Mormonenpräsident diktatorisch über sein Gebiet herrschte. Darüberhinaus wollte Buchanan die ausufernde Polygynie der Heiligen beenden. Das Weiße Haus ordnete daher einen Machtwechsel an und schickte einen neuen Gouverneur und Soldaten Richtung Salt Lake City. Kurz vor der Passage des Siedlertrecks war außerdem ein Mormonenapostel in Arkansas ermordet worden, was die Feindseligkeiten weiter schürte und in Utah den Durchreisenden angelastet wurde. Die Kirchenoberen heizten die Situation mit drastischen Predigten an. Das Konzept der "Blutsühne", wonach für bestimmte Taten das Blut des "Sünders" vergossen werden müsse, gehörte zum Selbstverständnis der Mormonen und wurde von Young propagiert.

Die Siedler, die zwar für damalige Verhältnisse außerordentlich gut ausgerüstet waren und 800 Stück Vieh mit sich führten, konnten ihren Proviant in Utah nicht auffüllen. Young hatte nämlich an seine Gläubigen die Order ausgegeben, alle Vorräte in Vorbereitung des erwarteten Einmarschs der Bundestruppen zu bunkern. Die Mormonen planten für diesen Fall einen Krieg der verbrannten Erde: ihre Feinde sollten weder Städte noch das Land intakt übernehmen können. Young verkündete das Kriegsrecht. Unterdessen waren die Siedler an Cedar City vorbei im Süden Utahs angekommen und machten Rast bei Mountain Meadows.

Wer schließlich den Befehl zum Angriff auf den Treck gab, konnte bis heute nicht geklärt werden. Jedenfalls attackierten am 7. September rund 200 als Indianer verkleidete Mormonen-Milizionäre und Paiute-Indianer unter der Führung des Mormonen-Bischofs John D. Lee gemeinsam die Siedler, welche hastig aus ihren Wagen eine Verteidigungsanlage formten.

Nach einer fünftägigen Belagerung lockten die Mormonen die Siedler mit dem Versprechen sicheren Geleits aus ihrer Stellung. Dann wurden die Unbewaffneten ermordet, nur Kinder unter sechs Jahren wurden verschont. Das Massaker wollten die Mormonen den Paiute-Indianern in die Schuhe schieben.
Foto: Bettmann Archive

Dabei starben sieben Siedler, mehrere wurden verletzt. Die Belagerung dauerte die folgenden Tage an, in denen die Vorräte der Familien zur Neige gingen. Die Angreifer machten sich hingegen Sorgen, dass ihre Verkleidung mittlerweile durchschaut wurde. Lee, der als Indianeragent der US-Regierung für Kontakte mit den Indigenen zuständig war, erklärte den Siedlern am 11. September, er habe mit den Paiutes einen Waffenstillstand ausverhandelt: Die Familien erhielten freies Geleit, wenn sie den Indianern ihr Vieh überließen.

Die Siedler willigten ein, worauf sie von den Mormonen in drei Gruppen – Männer, Frauen und Kinder – separiert und weggeführt wurden. Auf einen Befehl eröffneten die Milizionäre das Feuer auf die Unbewaffneten. Nur 17 Kinder unter sechs Jahren wurden verschont und in lokalen Familien aufgenommen. Später wurden sie zu Verwandten in ihre alte Heimat gebracht.

Es dauerte einige Wochen, bis sich die Nachricht über das Massaker verbreitete. Die Mormonen schoben in den folgenden Jahren den Indianern die Verantwortung für das Verbrechen zu. Erst 1872 exkommunizierte die Kirche einige Mitglieder für die Beteiligung an den Morden. Und es dauerte bis 2007 bis seitens der Kirche ein offizielles Bedauern gegenüber den Opfern und auch den Paiutes formuliert wurde. Dabei wurde Bedacht darauf genommen, die Schuld den lokalen Kirchenvertretern zuzuweisen und keinen Schatten auf die Rolle Brigham Youngs zu werfen. Bei einer Untersuchung des Tatortes im Jahr 1859 sammelte die US-Armee die Gebeine der Opfer ein und bestattete sie unter Steinen. Die Mörder hatten ihre Opfer nur notdürftig verscharrt, die Wölfe und Kojoten verstreuten die Überreste der Leichen über weite Strecken. Der nun beigesetzte Kinderschädel wurde von den Soldaten wohl als Beweisstück mitgenommen und landete schließlich im National Museum of Health and Medicine in Maryland. Das von den Soldaten errichtete provisorische Grabmal wurden von den Mormonen auf Geheiß Brigham Youngs bereits 1861 zerstört.

Die Mormonen führten die Siedler in einer langen Reihe weg, stellten jedem einzelnen einen Bewaffneten zur Seit und ermordeten Männer, Frauen und Kinder nach dem Befehl "Tut eure Pflicht".
Foto: T.B.H. Stenhouse

Spätes Urteil

In der Folge des Massakers kam es nur zu einer einzigen Verurteilung: Lee wurde fast zwanzig Jahre später der Prozess gemacht und am Ort des Massakers hingerichtet. Er hinterließ jedoch Memoiren mit schweren Anschuldigungen gegen seinen Adoptivvater Brigham Young: dieser trage die Verantwortung. Lee selbst sah sich als Bauernopfer, das aufgrund seines Eides zum Schweigen verpflichtet war.

Auch wenn die Kriegshysterie in Utah im Sommer 1857 mit der Erwartung einer Apokalypse reichlich übertrieben war, hatte die Sorge der Mormonen vor einer staatlichen Intervention durchaus eine Berechtigung. Seit der Gründung ihrer Religion durch ihren Propheten Joseph Smith im Jahr 1830 waren die selbsternannten Heiligen immer wieder mit der übrigen ansässigen Bevölkerung in Konflikt geraten. Dies hatte zur Folge, dass sich die Mormonen immer weiter Richtung Westen zurückzogen. Schon 1832 war Smith in Ohio geteert und gefedert worden. Betrügerische Finanzgeschäfte führten schließlich dazu, dass sich die Kirche nach Missouri begab. Dort legten sich die Mormonen eine geheime Schlägertruppe zu, die Daniten. Diese wurden auch zur Einschüchterung innerer Kritiker eingesetzt.

Nach einem Scharmützel mit einer staatlichen Miliz und der Ermordung von 17 Mormonen wurde Smith wegen Hochverrats inhaftiert, konnte jedoch fliehen. Die Kirche musste wieder weiterziehen, diesmal nach Nauvoo in Illinois. Hier gründete Smith die "Nauvoo Legion", eine paramilitärische Einheit. Zusätzlich wurde die Polygynie zu einem immer drängenderen inneren Problem der Kirche, denn diese Praxis fand keinesfalls ungeteilten Zuspruch, insbesondere, weil der Prophet auch Frauen seiner Weggefährten nachstellte. 1844 ließen Gegner Smiths eine Zeitung drucken, in der sie offene Kritik an seinen Doktrinen übten. Smith schickte seine Legion, um die Druckerpresse zu zerstören. Damit hatte er den Bogen überspannt: Bald darauf wurde er gemeinsam mit seinem Bruder Hyrum verhaftet. Noch bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, stürmten aufgebrachte Bürger das Gefängnis. Smith schoss noch mit einer Pistole, stürzte aber aus dem Fenster und wurde wie auch Hyrum getötet.

An den Großen Salzsee waren die Mormonen im Jahr 1847 gekommen. Hier wollte Smiths Nachfolger Brigham Young seinen theokratischen Staat "Deseret" errichten – dieser sollte die heutigen Bundesstaaten Utah und Nevada und Teile von Kalifornien, Arizona, Colorado, Idaho, New Mexico, Wyoming und Oregon umfassen. Der "Utah-Krieg" endete bereits 1858 ohne militärische Schlachten mit einem Sieg Washingtons: Young musste nicht zuletzt wegen Mountain Meadows die Regierung abgeben und schließlich auch seine Gottesstaatsphantasien begraben. Als Bundesstaat wurde Utah aber erst 1896 in die Union aufgenommen – zuvor wurde das Verbot der Vielehe in die Verfassung geschrieben.

Vielehe für die Führungskader

Das Prinzip der Vielehe hatte Joseph Smith für seine Person schon bald nach der Gründung seiner Kirche eingeführt, aber nur den engsten Zirkel eingeweiht. Er war sich wohl darüber im Klaren, dass dies seine Kirche vor eine innere Zerreißprobe stellen würde.

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Brigham Youngs Statue vor dem Tempel in Salt Lake City.
Foto: AP/Pizac

Die Mormonenkirche hätte wohl eine andere Entwicklung genommen, hätten sich nach dem Tod Joseph Smiths die Vielehegegner durchgesetzt. Samuel Smith hätte nach dem Tod seiner älteren Brüder Joseph und Hyrum die besten Karten für die Nachfolge gehabt. Doch nur einen Monat später starb er unter ungeklärten Umständen. Seine Tochter und der letzte verbliebene Smith-Bruder William beschuldigten später Brigham Young, er habe Samuel vergiften lassen.

Mehrere Abspaltungen der Kirche entstanden im Zuge der mormonischen Diadochenkämpfe. Die Hauptlinie übernahm der machtbewusste Young, der die Vielehe exzessiv lebte. Während Joseph Smith es auf mindestens 33 Frauen brachte, legte sich Young deren 56 zu. Alleine im Jänner und Februar 1846 heiratete er innerhalb von 27 Tagen zwanzig Frauen. Bei seinem Tod im Jahr 1877 hatte er 57 Kinder. 25 Jahre später schrieb die New York Times, seine Sippschaft übersteige bereits 1000 Nachkommen. Unter Young wurde das Prinzip der Vielehe schließlich ab 1852 auch öffentlich gelehrt.

Das Verbot der Vielehe im Jahr 1890 wurde nicht von allen Mormonen befolgt. Nachdem die Mormonen begannen, auf neu eingegangenen Mehrehen mit Exkommunikation zu reagieren, spaltete sich Anfang des 20. Jahrhunderts die "Fundamentalistische Kirche Jesu Chrsiti der Heiligen der Letzten Tage" ab. Diese soll noch immer bis zu 10.000 Mitglieder haben. Bis heute leben vor allem im Westen der USA Gemeinden nach Prinzipien der Polygynie.

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Das Warren-Jeffs-Evangelium.
Foto: AP/Bowmer

Breite Bekanntheit erlangte sie durch die Verurteilung ihres Anführers Warren Jeffs zu einer lebenslänglichen Haftstrafe wegen Missbrauchs Minderjähriger. Jeffs hatte 2002 die Sekte nach dem Tod seines Vaters Rulon Jeffs übernommen – und den Großteil der Ehefrauen seines Vaters dazu. Während Rulon auf mindestens 75 Frauen und 80 Kinder gekommen sein soll, übertrumpfte Sohn Warren seinen Vater mit mindestens 78 Frauen. Während der Haft schrieb auch Jeffs sein höchstpersönliches Evangelium mit Offenbarungen von Jesus Christus an ihn. Das Buch heißt "Botschaft an alle Völker" und enthält Anweisungen, Jeffs freizulassen.

Verdrängtes 9/11

Religiöse Fanatiker, die an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern einen Massenmord begehen – gnadenlos und ungerührt, da sie davon überzeugt sind, den Willen Gottes zu erfüllen: dies ist der Hintergrund für die jedes Jahr am 11. September abgehaltenen landesweiten Gedenkfeiern in den USA. Dass ausgerechnet am selben Datum im Jahr 1857 Feinde von innen mit der gleichen geistigen und moralischen Grundverfassung wie 2001 die Terroristen der Al Kaida ein Massaker an US-Bürgern verübten, ist eine zynische Fußnote der Geschichte, bis heute aber nicht Teil des kollektiven Bewusstseins der US-Bevölkerung. Die Beschäftigung mit der Frage, wie sich religiöser Extremismus entwickelt, würde sich jedoch am Beispiel von Mountain Meadows allemal lohnen.

Während die Mormonen in der Vergangenheit in Bezug auf Mountain Meadows eine Taktik des Totschweigens verfolgten, agieren sie heute durchaus offensiv. Die Errichtung von Gedenkstätten wurde unterstützt, und 2008 veröffentlichte ein Kirchenhistoriker der Mormonen gemeinsam mit zwei Historikern der Brigham-Young-Universität ein Buch über das Massaker. Die Kirche stellte dafür ihre Archive zur Verfügung, dies zeigt allerdings auch, dass sie weiterhin über die Lenkung der Narrative bestimmen will. Eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Kriminalgeschichte ist ihr aus naheliegenden Gründen nicht möglich: damit müsste die Religion mit ihren fast gottgleich verehrten Gründungsvätern Smith und Young ihre eigene Identität und Herkunft in Frage stellen.

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Der Mormonentempel von Salt Lake City. Das Wort "Kitsch" ist eine treffliche Zusammenfassung für die von den Mormonen bevorzugte Ikonografie.
Foto: AP/Bowmer

In ihren Lehrunterlagen propagiert die Kirche noch immer eine Opferrolle. So lautet es in einem "Leitfaden für Lehrer" zum Thema des Mountain-Meadow-Massakers: "Zu der Zeit war die öffentliche Stimmung sehr gegen die Mormonen. Brigham Young und den Mormonen wurde das schreckliche Massaker auf den Mountain Meadows zur Last gelegt, bei dem 1857 einige Einwanderer umgekommen waren, die durch Utah nach Kalifornien unterwegs gewesen waren. Die Beschuldigung war von Behördenvertretern aus Utah erhoben worden, die der Kirche feindlich gesinnt waren. Die Getöteten hatten nicht der Kirche angehört. 'Es gab damals etliche, die im Herzen auf Mord sannen' und sich damit brüsteten, sie würden jeden Mormonen, den sie träfen, umbringen."

Nachdem die Version der Indianer als Hauptschuldige schon von Beginn an niemand glauben mochte, lautet in der jüngeren Vergangenheit die offizielle Linie, dass lokale Kirchenführer verantwortlich seien. 2007 erklärte Henry Eyring, ein Führungsmitglied der Mormonen, bei der Gedenkveranstaltung am Tatort des Massakers in Bezug auf die Rolle der Paiute: "Obwohl das Ausmaß ihrer Involvierung umstritten ist, wird vermutet, dass sie nicht ohne die Anweisung und Anstiftung durch lokale Kirchenführer und -Mitglieder teilgenommen hätten."

In der übrigen Literatur wird der Standpunkt der Kirche, Brigham Young und seine Führungsclique trügen keine Verantwortung für das monströse Verbrechen, intensiv bezweifelt. Wenn auch eine direkte Befehlsausgabe zur Vernichtung des Siedlertrecks nicht belegbar ist, so wird trotzdem die Ursache für das Massaker im Schüren des religiösen Fanatismus durch Hetzpredigten gesehen.

Der Trailer von "September Dawn". Regisseur Christopher Cain verarbeitete dabei historische Fakten gemeinsam mit einer fiktiven Erzählung, als Dokudrama kann der Film daher nicht eingeordnet werden.
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Im Jahr 2007 zeichnete eine filmische Aufarbeitung des Themas eine klare Schuld Brigham Youngs. Viele Filmkritiker hatten jedoch eine ebenso klare negative Meinung über "September Dawn". Als Basis der Darstellung des Massakers diente Regisseur Christopher Cain die Schilderung des für das Verbrechen hingerichteten Lee, auch Reden Brigham Youngs fanden Verwendung. Der Film wurde ein Flop und der Schauspieler Jon Voight erntete für seine Rolle eines Mormonenbischofs eine Nominierung für eine Goldene Himbeere.

Die US-amerikanischste Religion

Ein weit verbreiteter Irrtum ist es, die Mormonen lediglich für eine der zahllosen evangelikalen Freikirchen zu halten. Die Heiligen der Letzten Tage haben mit dem Christentum, zu dem letztlich auch die meisten evangelikalen Sekten zu zählen sind, wenig bis gar nichts zu tun.

Die Entstehung der US-amerikanischsten aller Religionen wurzelt in einer tiefen Sehnsucht nach einer intensiveren Identität – für diese ist eine tiefergehende Geschichte vonnöten als jene der lokal nicht verwurzelten Einwanderer. Die Mormonen konstruierten sich eine historische Kontinuität, die bis in die Bronzezeit zurückreicht und die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner mit jener der Neuankömmlinge verknüpft.

Seher und Hochstapler

Die Grundlage des mormonischen Glaubens bilden die Visionen des jungen Joseph Smith, der angab, dass ihm 1820 im Alter von 14 Jahren Gott, Jesus Christus und später noch viele andere Entitäten erschienen seien.

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Der Engel Moroni auf dem Tempel von Salt Lake City. Moroni hat der mormonischen Überlieferung nach Joseph Smith zu den Goldenen Tafeln geführt, von denen dieser das Buch Mormon übersetzte.
Foto: AP/Bowmer

Im frühen 19. Jahrhundert war der Glauben an verborgene Schätze und damit verbunden die Schatzsucherei weit verbreitet. Mit Hilfe eines "Sehersteins" in einem Zylinderhut versuchte Smith schon früh vergrabene Schätze aufzuspüren. 1826 wurde er in Bainbridge in New York aufgrund seiner von ihm behaupteten Seher-Künste wegen Unruhestiftung und Hochstapelei zu einer Geldstrafe von 2 Dollar und 68 Cent verurteilt. In den Prozessunterlagen wird er als "Joseph the Glasslooker" bezeichnet. 1830 zog Smith nach Ohio, als ihm erneut juristisches Ungemach drohte.

Ab 1823 soll Smith der "Prophet Moroni" in Form eines Engels erschienen sein. Dieser leitete ihn zu einem Hügel in New York, wo Smith im Jahr 1827 "goldene Tafeln" ausgrub. Darauf soll sich der mormonischen Überlieferung zufolge ein Text in einer Hieroglyphenschrift befunden haben, in "reformiertem Ägyptisch" – eine Schrift, die Ägyptologen bis heute kein Begriff ist. Mit Hilfe der zwei Sehersteine "Urim und Thummim" übersetzte Smith in der Folge das "Buch Mormon". In einer Zeit, in der Europas vornehme Gesellschaften Mumienparties feierten und alles was mit der altägyptischen Kultur zu tun hatte en vogue war, ist leicht nachvollziehbar, wo Smith seine Ideen hernahm. Erst 1822 hatte der geniale Sprachwissenschafter Jean-François Champollion die Hieroglyphen entziffert. Der künftige Prophet hatte jedoch natürlich keine Ahnung von der altägyptischen Sprache und Schrift.

Analphabetischer Hobby-Altphilologe

Smith, der angeblich nur mangelhaft lesen und schreiben konnte, diktierte hinter einem Tuch sitzend seine Übersetzung. Diese ist mindestens ebenso bizarr wie die Geschichte des Auftauchens der Goldplatten. Die Indianer sollen demnach Nachfahren der zehn verlorenen Stämme Israels sein.

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Joseph Smith auf einer Daguerrotypie von 1843 oder 1844.
Foto: AP Photo/Church Archives

Diese wanderten nach der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar II. vor 2600 Jahren nach Nordamerika aus, wo sie sich in die gläubigen Nephiten und die ungläubigen Lamaniten aufgespalteten. Jesus soll nach seiner Auferstehung den Nephiten einen Besuch abgestattet haben. Später wurden sie von den Lamaniten vernichtet, welche dafür von Gott mit dunkler Hautfarbe gestraft wurden. Der letzte Nephit, Moroni, schrieb die Geschichte nieder, um sie gemeinsam mit Schrifttafeln seiner Ahnen 1400 Jahre später Smith auszuhändigen.

1842 veröffentlichte Smith noch das "Buch Abraham", das er von angekauften altägyptischen Papyri übersetzt haben wollte. Als Fragmente der Papyri aus dem Nachlass Smiths in den 1960er Jahren wieder auftauchten, stellten Ägyptologen fest, dass es sich dabei um das "Buch des Atems", einen Teil des weitverbreiteten ägyptischen Totenbuches handelte. Trotzdem hält die Mormonenkirche bis heute am "Buch Abraham" als Teil ihrer heiligen Schriften fest.

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Nachdem Mormonen die Zeremonie des "Endowment" im Tempel durchlaufen haben, sind sie zum Tragen einer speziellen Unterwäsche verpflichtet.
Foto: AP Photo/The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints

Auch andernorts bediente sich der Prophet an bereits Vorhandenem und Bewährtem: die Ideen für die geheimen mormonischen Tempelzeremonien, Riten und Handzeichen holte sich Joseph Smith durch seine Mitgliedschaft bei einer Freimaurerloge.

Und es begab sich

Wenn man Mark Twain Glauben schenken möchte, dann ist das Buch Mormon für Personen mit Schlafproblemen ein Geheimtipp. Der Autor besuchte auf einer seiner Reise Salt Lake City und schilderte danach in seiner Reisebeschreibung "Durch dick und dünn" Joseph Smiths Werk als "gedrucktes Chloroform". Dass der Prophet beim Verfassen des Buches wach bleiben konnte, bezeichnet der Vater der US-amerikanischen Literatur als "Wunder". Hätte Smith auf die immer wiederkehrende Formulierung "Und es begab sich" verzichtet, so Twain, dann wäre es kein Buch geworden, sondern nur ein Pamphlet. Diese Aussage ist insofern inkorrekt, als die Wendung nur in rund jedem fünften Vers auftaucht. Dafür sind rund 15 Prozent der Verse des Buchs Mormon aus der King-James-Übersetzung der Bibel abgeschrieben, was in Anbetracht der postulierten Entstehungszeit der Goldplatten, die zum Teil älter als die Bibel sein sollen, interessante Zeitschleifen bedingt. Aber die Wege des Herrn sind ja schließlich unergründlich. (Michael Vosatka, 2.10.2017)

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Der berühmte Tabernakel-Chor von Salt Lake City. An der beinahe an nordkoreanische Massenkundgebungen gemahnenden Szenerie wird deutlich, was eines der Fundamente des Mormonentums darstellt: Disziplin.
Foto: AP/Bowmer