Von oben: Doina Weber, Jens Ole Schmieder und Petra Gstrein.

Foto: Christian Mair

Reichenau an der Rax – Besser hätte sich der Bühnenaufbau vor der Fensterfront zum Tal hin nicht rentieren können. Da zuckten zur Premiere die Blitze, da donnerte es. Ein Glück in jenem Unglück, welches in dem Haus am Ende eines kleinen Dorfes daheim ist, wo wir uns gemäß Schulterschluss mit der Fiktion befinden. Der Vater hat schon vor langem alles versoffen, die Mutter liegt tot und aufgebahrt da, die Tochter – ein "altes Mädchen" – schwört sich, vom Friedhof aus direkt in ein neues Leben zu gehen.

Hauptsache weg aus diesem ärmlichsten Haus des Ortes und seinen Erinnerungen. Die haben hier nämlich weiten Raum. Denn nicht in Einklang zu bringen mit der Beschreibung des Schauplatzes ist die auf Stufen ansteigende Bühne (Lydia Hofmann). Wie ein Bundesheer-Tarnnetz legt sich ein weißes Geflecht über sie. Darauf Rudimente eines Hausstands. Zwischen ihnen trägt Anna (Petra Gstrein) ihre sachten Schritte in schweren schwarzen Schuhen um die Tote (Doina Weber) herum.

Die Totenwacht heißt die Erzählung Marie von Ebner-Eschenbachs, die Regisseurin Anna-Maria Krassnigg am Thalhof in Reichenau als Am Ende eines kleinen Dorfes als Stück adaptiert. Zwar hatte Ebner-Eschenbach als Dramatikerin begonnen, war mangels Erfolg aber von einer Bühnenkarriere abgerückt. Dorthin will Krassnigg sie zurückbringen.

Emotionaler Grunzer

Auf die Bühne tritt nun auch Georg, der Nachbarbub von früher (Jens Ole Schmieder). Grunzend kommt er zur Tür herein, um der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Emotional und kommunikativ hat er auch später kaum mehr zu bieten. "I hab’ di schon gern g’habt, i hab’s dir nur net zeig’n woll’n, damit’st dir nix einbild’st", wird er zu Anna sagen. Und sie ihn an alle Schandtaten erinnern, mit denen er sich an ihr vergangen hat, besonders an die Vergewaltigung mit Kindsfolge.

Neugierig späht die Mutter das Gespräch der beiden aus. Als ein mit Fetzen zugerichtetes Gespenst (Kostüme: Antoaneta Stereva) hat Krassnigg die Leiche zur Erzählerin der Geschichte gemacht. Als einzige spricht sie "schönes" Deutsch, den beiden Lebenden liegt ein Kunstdialekt im Mund. Das wirkt anfangs etwas naiv und wie ein folkloristischer Sozialporno. Allerdings einer ohne Ruch!

Ebner-Eschenbach hat ihre Figuren vorzüglich geschnitzt. Realistisch, psychologisch, sittlich, sozial und politisch lobt man ihre Literatur. Ein großes Drama geschieht hier zwischen kleinen Leuten. Dass Krassnigg es aus der ebenso kleinen Form der Novelle zum Theaterstück vergrößert hat, mutet erst wie zu viel der Ehre an: zwar tragisch, doch zu zart, zwar übertragbar, doch verstaubt.

Bemerkenswerte Frauenfigur

Aber diese Anna ist eine höchst bemerkenswerte Frau. Nicht nur weil Gstrein sie mit glasigen Augen schluchzend und zugleich bodenständig-stark gibt, imponiert sie. Überhaupt hat sich das gesamte Ensemble den Schlussjubel verdient. Nein, der vom_Leben Geplagten kommen zudem wunderschöne Sätze über die bebenden Lippen. Dem "Heiland, der für uns hinwegg’litten hat die Sünden der Welt", hat sie nichts weniger zu sagen als: "Mir hast nix wegg’litten, mei Teil is ganz übrigblieb’n."

Nun werde er sie heiraten, stellt Georg Anna letztlich vor seinen gönnerhaften Rat. Sie sagt nein. Endlich will sie Freiheit, ist jene auch klein. Sie hat fleißige Hände. Man ist dafür bester Dinge. (Michael Wurmitzer, 6.8.2017)