Als "Frau ohne Eigenschaften" wird sie manchmal charakterisiert. Erfolg durch nüchterne Farblosigkeit. Die pure Vernunft, stets zentriert in Gestik wie Programmatik. Seit zwölf Jahren ist Angela Merkel Kanzlerin. Im Herbst will sie wiedergewählt werden. Die Union, sagen Experten, habe sie in dieser Zeit sozialdemokratisiert, vor allen Dingen in Fragen der Gesellschaftspolitik. Dass die evangelische Pastorentochter dazu auch ein klares Bekenntnis zu umfassender Kulturförderung zählt, steht außer Zweifel.

Über Merkels persönliches Verhältnis zur Kunst ist nicht viel bekannt. Jahr für Jahr stattet sie etwa den Bayreuther Wagner-Festspielen einen seltenen Besuch in Abendrobe ab, privat, versteht sich. Die Begeisterung für die Musik des umstrittenen Meisters mag tatsächlich groß sein, nie würde sie aber das Risiko eingehen und darüber affektiert Auskunft geben. Zurückhaltung dort, wo andere Emotionen zeigen, auch das gehört zum Prinzip Merkel.

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Bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth gibt sich die Kanzlerin alljährlich privat. Die farbige Abendrobe gehört dabei längst zur Tradition.
Foto: dpa

Als die Kanzlerin 2016 Jan Böhmermanns Schmähgedicht über Recep Tayyip Erdoğan als "bewusst verletzend" charakterisierte, ruderte sie kurz darauf zurück: Ihre persönliche Bewertung tue nichts zur Sache. Der Amtseinführung von Donald Trump blieb sie fern und eröffnete lieber das neue Kunstmuseum Barberini in Potsdam. Die Antrittsrede des US-Präsidenten würde man aber "mit Interesse studieren" und danach eine enge Zusammenarbeit beginnen, ließ sie abschwächend verlautbaren. Selbst dann, wenn Merkel symbolisch Kante zeigt, bleibt der Ton diplomatisch.

Wahlrelevante Kulturbranche

"Wer seine eigene Kultur nicht kennt, der kann auch nur sehr schwer Zukunft gestalten", sagte sie unlängst vor 170 geladenen Leitern von Kultureinrichtungen. Stehsätze, die nach allen Seiten verbindlich wirken. Spätestens seit 1968 hat sich ein linksliberaler Zeitgeist in der Kulturszene Bahn gebrochen. Das weiß Angela Merkel. Mit konservativen Ansagen ist hier nicht viel zu holen.

Konkrete Kulturpolitik mag im Wahlkampf zwar nur eine untergeordnete Rolle spielen; Kulturschaffende als öffentlichkeitsaffine Meinungsträger auf seiner Seite zu haben gilt machtstrategisch dennoch als unverzichtbar. Und auch zahlenmäßig hat sich die Kulturbranche heute zu einem beachtlichen Wählerpool ausgewachsen, den zu vernachlässigen sich kein Politiker mehr leisten kann.

Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht das: Nach den Erkenntnissen der letzten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zur Kultur in Deutschland (2003–2007) bilden mehr als 800.000 Erwerbstätige die sogenannte "creative class" der Kulturarbeiter. Hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung ist diese nahezu gleichauf mit der chemischen Industrie.

Mehr TV, weniger lesen

Der Kulturkonsum der Deutschen hat sich nach einer Statistik des Bundes zwischen 2002 und 2013 nur unwesentlich geändert. Tendenziell steigend ist der TV- und Videokonsum, für den über 60 Prozent der "Kulturfreizeit" verwendet werden. Beliebter wird auch der Besuch von Museen. Schwieriger wird es für Theater, Opern, die Buch- und Medienbranche, wo teils rückläufige Zahlen festzustellen sind. Und doch sind es Korrekturen auf hohem Niveau, denn der Zugang zur sogenannten "Hochkultur" ist als Ergebnis zielgerichteter Förderung so niederschwellig wie nie. Allein zwischen 1985 und 2003 wuchsen die gesamtstaatlichen Kulturausgaben von 3,6 auf 8,2 Milliarden Euro. 2013 stand man laut letzter statistisch gesicherter Bilanz bei 9,9 Milliarden.

Im Unterschied etwa zum zentralistisch strukturierten Frankreich wird in Deutschland der Löwenanteil der Kulturförderung von Ländern und Gemeinden beigesteuert, zuletzt waren das 86,4 Prozent. Zwischen 2005 und 2013, also in zwei Amtsperioden Angela Merkels, stiegen die Kulturausgaben in den westlichen Flächenländern um 23,7 Prozent, während die Flächenländer im Osten ihren Etat um nur 17,2 Prozent steigern konnten. Auch um dies auszugleichen, erhöhte der Bund seine Ausgaben im selben Zeitraum um 34,3 Prozent.

Gekürzt, aber auch fehlkalkuliert wird punktuell auf kommunaler Ebene: Hamburg wird an der Kostenexplosion für die Elbphilharmonie noch zu knabbern haben, in Berlin fehlen rund 430 Millionen Euro für Sanierungen, in Köln wurde die Oper zum Finanzdesaster. Den gesetzlich festgeschriebenen Spardruck in den Ländern (Schuldenbremse) will die Politik mit Steigerungen im Bund abschwächen.

Erben von Rot-Grün

Strukturell wie ideell den Weg bereitet hat dafür bereits Merkels Vorgänger Gerhard Schröder (SPD). Unter seiner rot-grünen Regierung wurde 1998 das Amt des Kulturstaatsministers im Bundeskanzleramt geschaffen. Vom Glanz der Kulturgönnerschaft auf oberster Ebene versprach man sich freilich auch Prestigegewinne. Merkel setzte auf diesen Posten von 2005 bis 2013 den erfahrenen Bildungspolitiker Bernd Neumann (CDU). Er stellte die Filmförderung auf neue Füße und trieb den unter Schröder vorbereiteten Abriss des DDR-Kulturpalasts und die Rekonstruktion des früheren Berliner Stadtschlosses voran.

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Über den Abriss des Berliner DDR-Kulturpalasts und eine Rekonstruktion der früheren Preußenresidenz wurde lange Zeit diskutiert. 2007 fiel der Entschluss, 2015 feierte man Richtfest für den Rohbau.
Foto: Reuters/Fabrizio Bensch

2006 konnte Merkel die Dauerausstellung des Langzeitprojekts Deutsches Historisches Museum (DHM) eröffnen. Dort sah sich Neumanns Behörde 2009 im Zusammenhang mit einer Ausstellung mit Zensurvorwürfen konfrontiert. Der Streitpunkt: Zuwanderung. Auf einer Schautafel hätten die Kuratoren den Trend zu "Abschottung" und "Festung Europa" in der EU-Migrationspolitik vermerken wollen. Das Kulturamt sah das anders und soll mit einem Interventionsversuch im DHM durchgekommen sein, wie Medien berichteten. "Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fördert staatlicherseits die Integration von Zuwanderern in Deutschland", stand letztlich auf der Schautafel.

Wahlgeschenk für 2018

Ansonsten blieb Neumanns Amtszeit unauffällig, budgetär gab es selbst in den Krisenjahren keine Engpässe. 2013 übernahm Parteikollegin Monika Grütters den Posten. Die 55-jährige Kulturpolitikerin, nunmehr Landesvorsitzende der Berliner CDU, konnte den Kulturetat des Bundes Jahr für Jahr steigern, seit Amtsantritt um 460 Millionen Euro. Für 2018 lockt Grütters mit einem Wahlgeschenk: 1,67 Milliarden stehen dann für Kultur bereit, was einer ungewöhnlich hohen Steigerung um 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.

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Ausdruck der Kulturnation und ausufernder Budgets: Die Hamburger Elbphilharmonie konnte 2017 eröffnet werden.
Christian Charisius/dpa

Die größten Summen fließen beim Bund mit je 300 Millionen in die Bereiche Museen, Bibliotheken und Kulturdiplomatie im Ausland sowie örtlich gesehen in die Hauptstadt. Eine weitere Finanzspritze verpasst Grütters nun dem deutschen Film: Insgesamt 125 Millionen Euro gibt es dafür. Im Budget enthalten sind auch Millionen für Pop, Rock und Jazz oder den Ankauf von "national wertvollem Kulturgut". 6,5 Millionen fließen in die Prävention gegen islamistischen Extremismus.

Schutzgesetz und Kolonialismus

Abseits des Budgetären zeigt Grütters als langjährige Honorarprofessorin für Kulturmanagement aber auch offensiven Gestaltungswillen und geht dabei auch keinem Konflikt aus dem Weg. Scharf attackiert wurde sie etwa bei ihrer Erneuerung des Kulturgüterschutzgesetzes, mit dem der Ausverkauf von "national bedeutsamen" Werken auf internationalen Handelsplätzen eingedämmt werden sollte.

Sammler und Kunsthändler reagierten empört, sprachen von "Enteignungen", Starkünstler wie Georg Baselitz zogen gar ihre Leihgaben aus Museen zurück, obwohl die hoch angesetzten Altersgrenzen (50 bis 75 Jahre) praktisch die gesamte zeitgenössische Kunst von den Regelungen ausnehmen. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes ist es darum auch ruhig geworden. Nur ein einziges Werk wurde seither in die heißdiskutierte "Liste national wertvollen Kulturguts" aufgenommen – auf Betreiben des Eigentümers.

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Monika Grütters, Kulturstaatsministerin seit 2013, verspricht im Wahljahr eine saftige Budgeterhöhung. Manche Kulturbaustellen bereiten auch Kopfzerbrechen. Hier sieht man sie bei der Eröffnung der Berlinale.
Foto: REUTERS/Axel Schmidt

Vorwürfe, sie würde beim Thema Restitution von Naziraubgut zu wenig unternehmen, ließ die Staatsministerin nicht lange auf sich sitzen: Mittlerweile hat sie das Budget für Provenienzforschung von zwei auf 6,5 Millionen Euro mehr als verdreifacht. Ein starkes Bekenntnis zur Vergangenheitsbewältigung spiegelt sich auch in zusätzlichen Mitteln für Gedenkstätten und verstärkter Kulturdiplomatie mit Israel wider.

Baustelle und Sorgenkind hingegen bleibt das Humboldt-Forum, das als ethnologisches Museum 2019 im rekonstruierten Berliner Stadtschloss eröffnen soll. Als Mastermind holte man Neil MacGregor vom British Museum, aber seither stockt die Planung.

Im rekonstruierten Berliner Stadtschloss soll 2019 das ethnologische Humboldt-Forum eröffnen. In die Planungen für Berlins "Neue Mitte" war unter Rot-Grün auch der österreichische Sozialdemokrat Hannes Swoboda involviert.
Foto: Stiftung Berliner Schloss-Humboldtforum/Franco Stella

Allgemeine Konzeptlosigkeit und einen allzu arglosen Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte kritisierte zuletzt die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und trat aus dem Expertenbeirat aus. In Wien, wo im Herbst das neue Weltmuseum eröffnen wird, will man die kolonialen Verwicklungen der Sammlung in einem eigenen Saal kenntlich machen. Aus Berlin hört man in dieser Hinsicht bislang zu wenig, meinen Kritiker.

Auch die SPD hat hier einen Angriffspunkt gefunden. In ihrem Wahlprogramm fordern die Sozialdemokraten dezidiert verstärkte Aufarbeitung der "aus heutiger Sicht als Völkermord" zu bezeichnenden Gräueltaten deutsch-kaiserlicher Truppen an den Herero und Nama. Weitere kulturpolitische Forderungen: einmal pro Monat kostenloser Eintritt in alle vom Bund mitfinanzierten Einrichtungen, die Förderung und Anerkennung von Computerspielen als Kulturgut, gendergerecht quotierte Fachjurys und eine weitere Verbesserung der sozialen Absicherung von Künstlern.

Debatte um Leitkultur

"Deutschland ist das Land mit der höchsten Dichte an Theatern, Opern, Orchestern, Museen, Literaturhäusern und Festivals weltweit. Nirgendwo werden mehr Bücher geschrieben und gelesen als bei uns", heißt es selbstbewusst im Programm der Union. Mit konkreten Forderungen hält man sich eher zurück. Dass beim Thema Kultur derzeit weniger an Förderstrukturen und prekäre Künstler, vielmehr an die Herausforderungen der Migrationsgesellschaft gedacht wird, hat vielleicht CDU-Innenminister Thomas de Maizière in seinen im April vorgelegten zehn Grundsätzen einer "Deutschen Leitkultur" klargemacht. Monika Grütters verpackt das schöngeistig und spricht lieber vom "Leitmotiv", ein Begriff aus der Musik.

Die Alternative für Deutschland (AfD) macht in ihrem Wahlprogramm jedenfalls kein Hehl daraus, Kulturpolitik auch als Kulturkampf führen zu wollen: gegen "Multikulturalismus", gegen eine "Verengung der deutschen Erinnerungspolitik auf die Zeit des Nationalsozialismus", gegen "politisch korrekte Sprachvorgaben" und die Zurückdrängung der "deutschen Nationalsprache", heißt es da. Förderprogramme des Bundes und der EU, "die an ideologische Zielvorgaben gekoppelt" seien, wolle man durch Förderrichtlinien ersetzen, die "der Bewahrung des kulturellen Erbes oder dessen würdiger Fortschreibung dienen". (Stefan Weiss, 7.8.2017)