Eine der Grafiken Alfred Kubins, die Autor Radek Knapp zum Teil seiner Erzähl-Ausstellung "Die Stunde der Geburt" im Leopold-Museum machte: "Dame mit Spitzenhöschen" (1903/1906).

Foto: Eberhard Spangenberg / Bildrecht, Wien, 2017

"Der Narr" (1918/1919).

Foto: Eberhard Spangenberg/Bildrecht, Wien, 2017

"Vergangenheit" (1901).

Foto: Eberhard Spangenberg / Bildrecht, Wien, 2017

"Die Todesstunde", Blatt 14 der Hans von Webermappe (1903).

Foto: Eberhard Spangenberg / Bildrecht, Wien, 2017

"Der Mensch" (1902).

Foto: Eberhard Spangenberg / Bildrecht, Wien, 2017

Wien – Nachtkreaturen, Fratzen, Mischwesen aus Mann und Frau, irre Gewordene, Dämonen, Teufel, beklemmende erotische Fantasien, verschobene Proportionen, ferne Horizonte und tiefe Abgründe. Niemand, der sich auf Alfred Kubins in dämmriges Licht getauchte Tuschzeichnungen, Lithografien und Illustrationen wirklich einlässt, wird sie je wieder vergessen. Fast immer führen seine mit feinen Strichen messerscharf umrissenen Sturzflüge in den Abgrund der Seele, in ein Düsterreich zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkel, Verstand und Unterbewusstsein.

Es wütet etwas in diesen so statisch anmutenden Zeichnungen. Kunst, schreibt Kubin in seinem Roman "Die andere Seite" dazu, sei ein Sicherheitsventil. In dem Roman, der ihn im Jahr 1909 als Autor bekannt machte, findet Kubin auch gleich das Wort, das später oft im Zusammenhang mit seinen Bildern fallen wird: "Psychografik". Die Auffassung, die geschundene Seele könne durch Kunst befreit werden, war zu Kubins Zeit verbreitet, nur wenigen aber war es damit so ernst wie ihm.

Befreiung in München

Und ernst stand es um Kubin von Anfang an, glaubt man seinen autobiografischen Schriften, die einen zu beträchtlicher Selbststilisierung neigenden Künstler zeigen. Alfred Leopold Isidor Kubin wurde 1877 in Nordböhmen geboren, als er drei Jahre alt war, zog die Familie nach Salzburg und von dort weiter nach Zell am See. Der frühe Tod der Mutter und das schwierige Verhältnis zum autoritären Vater, einem k. u. k. Landvermesser, prägten den Jungen. Die "Schulkarriere" verlief durchwachsen. Das Gymnasium brach Kubin ebenso ab wie die kunstgewerbliche Ausbildung in Salzburg und eine Fotografenlehre beim Klagenfurter Onkel. Die Militärausbildung endete 1897 mit einem Nervenzusammenbruch.

Erst Kubins Kunststudium in München und Begegnungen u. a. mit Max Klinger lösten eine künstlerische Befreiung und den "Sturz in Visionen schwarz-weißer Bilder" aus, der sein Frühwerk grundiert, für das er bis heute berühmt ist.

Etwa zur gleichen Zeit heiratete Kubin die Witwe Hedwig Gründler, mit deren finanziellen Mitteln das Schlössel Zwickledt bei Wernstein am Inn gekauft werden konnte, das Kubin für mehr als fünf Jahrzehnte bewohnte. Als er 1959 starb, hinterließ der immer wieder von Schaffenskrisen gebeutelte Künstler ein riesiges grafisches Werk, einige autobiografische Schriften und den Roman "Die andere Seite", den er – so wie 250 Werke anderer Autoren, etwa Edgar Allen Poes, Nervals, Dostojewskis und Hauffs – mit Illustrationen versehen hatte.

Der eruptive Anfang

Das Leopold Museum zeigt nun 41 Hauptwerke des Künstlers. Es ist aus mehreren Gründen eine ganz besondere Ausstellung, die das Museum in der ruhigen Konzentriertheit des neu geschaffenen Grafischen Kabinetts präsentiert. Zu sehen sind Werke aus verschiedenen Schaffensphasen, wobei der Schwerpunkt auf der eruptiven Anfangszeit liegt. Gezeigt werden nicht nur bekannte Zeichnungen aus dem Fundus des Museums, etwa "Der Mensch" (um 1902), "Das Erdrückende" (1900) oder "Die Stunde der Geburt" (1901/02), sondern auch weniger bekannte, die sonst in der Privatsammlung Leopold hängen, zum Beispiel die kolorierte Zeichnung "Narzissmus" (1930), "Die Wissenschaft" (1902) und "Macht" (1903).

Ausgewählt wurden die Bilder vom 1964 in Warschau geborenen Schriftsteller Radek Knapp, der eingeladen wurde, zu einer kleinen Auswahl von Kubin-Grafiken eine Erzählung zu schreiben. Entstanden ist so eine Graphic Novel der anderen Art, in der nicht ein Künstler einen bestehenden Text illustriert, sondern ein Autor, der gleichzeitig Kurator ist, sich von vorliegenden Bildern zu einem Text inspirieren lässt.

Zwiegespräch

Auf den ersten Blick scheinen der seit langem in Österreich lebende Knapp, der sich mit leichtfüßigen, im Migrantenumfeld spielenden Romanen einen Namen machte, und Kubin, der einsame Grübler im Sodbrennen des Ich, nur wenig gemein zu haben. Doch der Eindruck täuscht, denn subtil nimmt Knapp Lebens- und Werkthemen Kubins auf. In 41 Schritten entwickelt er eine Geschichte um den alten Isidor, der den Tod nahen fühlt und in der Stadt eine Antwort auf die Frage "Wer war ich in den letzten achtzig Jahren?" sucht. Sie könnte auch lauten: "Was ist das Leben?"

Beantwortet wird sie in Knapps Erzählung "Die Stunde der Geburt" vielschichtig – und in Form einer Parabel. Das parabelhafte Erzählen, der Verweis vom Besonderen auf das Allgemeine, kommt Knapp, der nicht mit Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und Oberflächlichkeiten spart, spürbar entgegen. Und es wird trotz aller ästhetischen Unterschiede zwischen den beiden Künstlern dem Zeichner Kubin gerecht. Auch er stellte symbolstark das Individuelle und den sich selbst und einer rasant sich verändernden Zeit ausgelieferten Menschen ins Zentrum. Seine Aktualität, auch das zeigt diese Ausstellung, hat Kubin, der Meister der Dämmerung, bewahrt. (Stefan Gmünder, 7.8.2017)