Brienzer, Kurz, Hüfter oder Übersprung – so heißen die wichtigsten Züge im Repertoire eines Schwingers, von denen hunderte erlaubt sind.

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Einer muss auf den Rücken, vom Nacken bis zur Mitte beider Schulterblätter innerhalb des Mehlringes den Boden berühren.

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Was bei allem ernsthaftem Kräftemessen nicht fehlen darf, sind Fairness, Spaß und die Berge.

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Am 26. August ist es wieder so weit. Dann findet das große Trachten- und Älplerfest Unspunnen statt, das nur alle zwölf Jahre ausgetragen wird.

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Dabei wird an Folklore aufgefahren, was das Land im Köcher hat: Es treten Fahnenschwinger, Tanzgruppen, Chöre und gut 250 Athleten an.

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Tanzgruppen

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Fahnenschwinger

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Das Steinstoßen ist die Königsdisziplin.

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Der Stein des Anstoßes

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Jodler und Alphörner sind verklungen, durch die Lautsprecher kündigt der Obmann der Schwinger die Kontrahenten für den Zweikampf an. Im Angesicht des Alpenpanoramas steigen zwei Muskelpakete in Sennenhemd und Drillichhose in den Ring aus Sägemehl. Noch reichen sie sich freundlich die Hände. Dann festigen sie breitbeinig ihren Stand und recken die Nacken vor. Mit der Rechten packen sie den Gürtel des zentnerschweren Rivalen, mit der Linken die aufgekrempelte Hose, schieben einander mit Wucht durch den Ring, um den anderen aufs Kreuz zu legen.

Verschlungen, verschraubt und verstaubt taktieren die Beiden am Boden. Brienzer, Kurz, Hüfter oder Übersprung – so heißen die wichtigsten Züge im Repertoire eines Schwingers, von denen hunderte erlaubt sind. Einer muss auf den Rücken, vom Nacken bis zur Mitte beider Schulterblätter innerhalb des Mehlringes den Boden berühren.

Ein Zuchtstier für den König

Ein Urschrei. Der eine wirbelt sein Gegenüber durch die Luft, schwingt ihn über die Schulter und legt ihn auf den Rücken. Sieg. Doch der Triumphierende jubelt nicht groß, sondern klopft dem Unterlegenen freundschaftlich das Mehl vom Rücken – eine der bezeichnendsten Gesten beim Schwingen. Auch das gehört zum Reglement, ebenso wie Sponsorenwerbung verboten ist. Der Schwinger-König bekommt den Kranz aus Eichenlaub und eine 1.300-Kilo-Trophäe: einen Zuchtstier, den sogenannten Muni. Eine Prämie kriegt jeder Kämpfer. Er kann unter Sachwerten wie Kuhglocken, Handgeschnitztem oder einer Waschmaschine auswählen. Nie ist es ein Pokal, der später das Wohnzimmer ziert. Der Nationalsport ist herrlich unprätentiös.

Die Helvetier sperren sich nicht nur mit dem Franken, Plebisziten und dem Schweizer Kreuz gegen die Vereinnahmung durch Europa. Sie halten auch an ihren uralten Volkssportarten fest: Schwingen, auch Hosenlupf genannt, Steinstoßen und Hornussen – ein Ballspiel, das eine gewisse Verwandtschaft mit Golf und Baseball zeigt. Alle drei sind Hirtenspiele, die zum Spitzensport mit Ligaspielen aufgestiegen sind. Was bei allem ernsthaftem Kräftemessen nicht fehlen darf, sind Fairness, Spaß und die Berge.

Sportlicher Höhepunkt

Am 26. August ist es wieder so weit. Dann findet das große Trachten- und Älplerfest Unspunnen statt, das nur alle zwölf Jahre ausgetragen wird. Dabei wird an Folklore aufgefahren, was das Land im Köcher hat: Es treten Fahnenschwinger, Tanzgruppen, Chöre und gut 250 Athleten an. Die Eidgenössischen Wettkämpfe mögen zur Kategorie Weltmeisterschaft gehören, Unspunnen ist die Olympiade – der sportliche Höhepunkt. An die 150.000 Zuschauer werden zum Großereignis auf der Höhematte in Interlaken erwartet. Alle wollen heuer einen neuen König sehen, und das ganze Land schaut zu. Das Schweizer Fernsehen überträgt live.

Das Steinstoßen ist die Königsdisziplin. Um sich in dieser Disziplin zu messen, reisen die Kräftigsten der Schweiz ins Bernerland, kommen von Almen und Bergdörfern herab. Rund dreißig durchtrainierte Hünen sind gemeldet, Schwergewichte müssen sie schon sein. Denn der Unspunnenstein ist ein Felsbrocken: 83,5 Kilo Schweizer Granit, ein unhandlicher Gletscherfindling. Ein Normalsterblicher kann ihn kaum vom Fleck bewegen.

Schon zweimal gestohlen

Größte Aufmerksamkeit richtet sich auf den 29. August, wenn die Steinstößer an den Start gehen. Denn eine wichtige Frage steht im Raum: Kommt das Original des Unspunnensteins zurück oder nicht? Das traditionelle Sportgerät wurde bereits zweimal gestohlen. 1984 wurde er aus dem Touristikmuseum der Jungfrauregion, seinem bis dahin üblichen Aufbewahrungsort, entwendet. Zur Tat bekannten sich jurassische Separatisten. Die Béliers, wie sie sich nennen, kämpfen für den Anschluss des noch zum Kanton Bern gehörenden Südjura an den Kanton Jura – ein Konflikt, der seit der Zeit Napoleons schwelt. Eine Replik wurde angefertigt, mit der fortan gestoßen wurde und die nun unter Verschluss ist: Der Wettkampfstein wird heute in einem Schließfach der UBS-Bank in Interlaken aufbewahrt.

Siebzehn Jahre später, am 12. August 2001, gaben die Jura-Verfechter den symbolträchtigen Stein zurück, allerdings nicht unversehrt. Die zwölf Sterne der Europäischen Union, das Datum des umstrittenen "Neins" zum EU-Beitritt von 1992 sowie das Widder-Wappen der Béliers sind eingemeißelt – eine Provokation der Pro-Europa-Jurassen gegenüber den konservativen Unionsgegnern in Bern. Durch die Bearbeitung wurde der Stein rund zwei Kilo leichter, was ihn als Wettkampfstein disqualifizierte. Am 20. August 2005 stahlen Unbekannte den Unspunnenstein erneut, diesmal aus der Lobby des Grandhotels Victoria Jungfrau, wo er ausgestellt war. Am Tatort blieb ein Pflasterstein zurück mit aufgemaltem Jura-Wappen.

Mit EU-Sternen retourniert

"Das Thema ist vollgepackt mit Emotionen", sagt Alice Leu, die Sprecherin vom Unspunnenfest. "Beim ersten Diebstahl war klar, dass es die Béliers waren", sagt Leu. Beim zweiten fehlen eindeutige Beweise. Wo sich der Stein aktuell befindet, weiß niemand. Aber er wird gesucht.

Unspunnen gilt als Fest der Friedens und der Verbrüderung. Deshalb wünschen sich die Berner den Stein jetzt zurück. Die Auguren des Festkomitees haben es sogar ins Programm geschrieben. "Es wäre ein Zeichen der Versöhnung", sagt Ueli Bettler, der Präsident des Unspunnenfestes. Am 29. August ist Stichtag. "Wenn der Stein dann kommt, werden wir zusammen feiern, Weißwein trinken und Käse essen." (Beate Schümann, 13.8.2017)