Bild nicht mehr verfügbar.

Die olympischen Ringe, hier im Madureira-Park, symbolisieren einen der größten jüngeren Korruptionsskandale Brasiliens. Rios Bürger und ihre Kinder tragen die Folgen.

Foto: Reuters / Ricardo Moraes

Bild nicht mehr verfügbar.

Bewohner von Mangueira sammelten im Juni Patronenhülsen nach einer Schießerei zwischen Polizei und Drogendealern auf. Eine unbeteiligte ältere Frau und ihre Tochter wurden getötet.

Foto: Reuters / Ricardo Moraes

Maria da Penha wehrte sich bis zuletzt gegen die Umsiedlung, ihre neue Wohnung ist vergleichsweise proper. Viele andere aus Vila Autódromo wurden mit Sozialbauten in Billigbauweise abgespeist.

Foto: APA / AFP / Maro Pimentel

Vor mehr als einem Jahr gingen die Bilder um die Welt: Eine schmächtige Frau stellt sich der Übermacht von Sicherheitskräften in den Weg. Die 51-jährige Maria da Penha weigerte sich, ihr Zuhause, in dem sie seit 24 Jahren wohnte, zu verlassen. Der Kampf der Einwohner der Favela Vila Autódromo gegen ihre Zwangsumsiedlung wurde zum Symbol für die Unverfrorenheit, mit der Rio de Janeiro gegen seine Bewohner vorging.

In der Siedlung am Ufer der Lagune Jacarepaguá lebten seit Jahrzehnten rund 3000 Menschen in ihren kleinen unverputzten Häusern. Sie mussten für den Olympiapark, das Epizentrum der Spiele, weichen – am besten fernab der öffentlichen Berichterstattung. Dabei war die Favela Autódromo nicht illegal, die Bewohner hatten eine Nutzungserlaubnis des Geländes.

Doch die Rechnung ging nicht auf, wie so vieles bei den Olympischen Spielen. Die Zwangsumsiedlung der Bewohner wurde zum Politikum.

Heute, ein Jahr nach der fulminanten Eröffnungsshow, mag sich kaum noch jemand an die "Jahrhundertspiele" erinnern – zu schwer wiegt das Erbe. Die Cariocas, die Bewohner von Brasiliens zweitgrößter Metropole, plagen andere Sorgen. Der Bundesstaat steht am Rande der Pleite und kann nur notdürftig Schulen und Hospitäler offen halten. Öffentlich Bedienstete müssen seit Monaten Gehaltseinbußen von bis zu 30 Prozent hinnehmen. Ihre Löhne und die Renten werden ohnehin seit Monaten nicht pünktlich und nur mit Abschlägen ausgezahlt.

Die Schusswechsel immer im Blick

Auch im Sicherheitsbereich wird gespart. Während vielen Polizeieinheiten das Geld für Benzin fehlt, rüsten die Drogengangs auf und haben die Armenviertel zurückerobert, aus denen sie einst vertrieben wurden. Die Mordrate schnellte in den ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um knapp 17 Prozent in die Höhe. Durchschnittlich 16 Mordopfer werden in Rio täglich gezählt.

Für viele Cariocas ist deshalb der tägliche Blick auf die Webseite "Fogo Cruzado" ("Kreuzfeuer") schon Routine. So wie in anderen Städten über Staus informiert wird, zeigt die Seite aktuelle Schusswechsel an. "Wir registrieren täglich 15 bis 25 Schusswechsel", sagt Cecília Oliveira von Amnesty International Brasilien. Bewohner melden eine Schießerei oder schicken ein Video. Fünf Mitarbeiter von Amnesty checken die Fakten und veröffentlichen die Informationen dann auf der Seite.

Rund 200.000 neue Follower bekam im ersten Halbjahr die neue App OTT ("Wo ist eine Schießerei?"), die ebenfalls aktuell vor Schusswechseln warnt. "Unsere Mission ist, die Menschen vor verirrten Kugeln zu schützen", sagt Marcos Vinícius Baptista, der die App entwickelt hat. "Es ist nicht unser Ziel, eine Million Follower zu haben, sondern Leben zu schützen."

In ihrer Not schickte die Zentralregierung 8600 Soldaten, die seit Anfang August auf Rios Straßen patrouillieren. Vor allen an Touristenpunkten und an der Strandpromenade haben sie sich schwer bewaffnet postiert. Die Operation soll mindestens bis Jahresende dauern in der Hoffnung, dass mehr Sicherheit einzieht. Doch auch Verteidigungsminister Paul Jungmann warnt vorsorglich vor zu hohen Erwartungen. "Keiner hat eine magische Lösung versprochen", sagt er.

Maracanã als Symbol der Pleite

Der Militäreinsatz solle den Eindruck von Ruhe und Ordnung vermitteln, sagt der Soziologe Ignacio Cano von der Universität UFRJ in Rio. "Die Lage in Rio ist besorgniserregend, denn die Regierung vertraut nicht mehr darauf, dass die Polizisten ihre Arbeit machen, weil sie nicht bezahlt werden." Für Cano war von Anfang an klar, dass die größten Probleme erst nach den Spielen kommen, "mit einer geringeren Aufmerksamkeit der internationalen Medien und weniger Geld".

Alles in allem haben die Spiele neben 2,6 Milliarden Euro an Organisationskosten rund 10,8 Milliarden Euro für Stadien und den Ausbau der Infrastruktur verschlungen. Nicht einmal die genauen Zahlen sind in der postolympischen Intransparenz klar. Das weltberühmte Maracanã-Stadion ist dabei zum Sinnbild für das Olympia-Desaster geworden.

Modriger Geruch umgibt den Bau schon von außen. Im Innern sind nur noch dutzende Katzen zu Hause, die Sitze wurden abmontiert, der Rasen ist vertrocknet. Das Stadion ist mehrheitlich in Händen des Baukonzerns Odebrecht, der tief in Brasiliens berühmtesten Korruptionsskandal "Lava Jato" verstrickt ist. Schon seit Monaten sucht das Unternehmen einen Nachfolger als Betreiber, doch zunächst müssen die Schäden behoben werden.

Verlassene Arenen

Nicht anders sieht es in Barra da Tijuca aus, wo die meisten der ultramodernen Olympiabauten stehen. Auch hier sind die Spielstätten leer und verrotten. Im Velodrom gab es einen Brand, doch die Betreiber können die Reparaturkosten nicht zahlen. Die Arena do Futuro, wo unter anderem die Wettkämpfe der Handballer stattfanden, sollte abmontiert und mit dem Material Schulen gebaut werden. Wann und ob das passiert, steht in den Sternen.

Ähnlich sieht es in der Schwimmarena aus, wo Michael Phelps Gold errang. Die Arena ist verlassen, im Becken bilden sich Ölpfützen. "Es wird keine weißen Elefanten geben", hatte Rios damaliger Bürgermeister Eduardo Paes vor noch weniger als einem Jahr vollmundig versichert und von "Spielen für die Bewohner" geschwärmt. Seine Worte klingen heute wie blanker Hohn.

Auch das Organisationskomitee sitzt auf einem Schuldenberg von rund 30 Millionen Euro. Um zumindest einen Teil der Gläubiger zufriedenzustellen, soll jetzt in "Naturalien" bezahlt werden – mit Klimaanlagen, Kabeln und Equipment.

Der "Aufschlag" des Ex-Gouverneurs

Wie allerdings der Bau von Sportstätten doch eine lukrative Einnahmequelle sein kann, zeigte Rios Ex-Gouverneur Sérgio Cabral persönlich vor. Über Jahre hinweg betrieb er mit einer ganzen Meute korrupter Funktionäre ein Bestechungsnetz und verlangte einen "Aufschlag" von fünf Prozent für öffentliche Bauvorhaben. 70 Millionen Euro soll er so unterschlagen haben. Inzwischen ist er in Haft.

Zu den Errungenschaften von Olympia gehört das Museum do Amanhã mit seinem futuristischen Bau. Das Museum wurde schnell ein Besuchermagnet und macht das einst heruntergekommene Hafenviertel wieder zur Ausgehmeile. Der größte Erfolg aber ist für die meisten Cariocas die Erweiterung der Metro, die über 16 Kilometer Barra da Tijuca mit Rios Südzone Ipanema und Leblon verbindet. Schon vor mehr als zehn Jahren wurde den Bewohnern die neue Metro versprochen. Die Olympischen Spiele machten es möglich.

Die Hände über diese wunderbare Anbindung reiben sich aber auch Immobilienspekulanten wie Carlos Carvalho, der "Patron von Barra". Denn die Quadratmeterpreise in Barra da Tijuca schnellten dank Olympia in die Höhe und machten den 92-jährigen Immobilienmogul zum eigentlichen Gewinner der Spiele. Er ließ die Hochhäuser im olympischen Dorf erbauen und danach aufwendig zu Luxusappartements mit Fitnesscenter, Friseur und Pool renovieren. Noch gleicht das ehemalige olympische Dorf einer Geisterstadt. Doch die Immobilienfirma Carvalho Hosken versichert, dass es genug zahlungskräftige Kunden gebe.

Desaster bei den Sozialbauten

Im Schatten der Luxushochhäuser wurden in aller Eile von der Stadtverwaltung Sozialbauten für die umgesiedelten Bewohner von Vila Autódromo hochgezogen. Für die Sozialwohnungen mussten viele Bewohner einen Finanzierungsvertrag unterschreiben. Die Raten von umgerechnet rund 27.000 Euro übernimmt die Stadtverwaltung.

Bei Zahlungsverzögerung geht die Immobilie allerdings zurück an die Bank. Vielen Familien drohe die Zwangsräumung, sagte Anwältin Rosangela Camargo, die die Bewohner vertritt. Denn die Stadt hat kein Geld und kommt mit den Ratenzahlungen nicht hinterher. Zwei Familien hätten sogar schon den Räumungsbescheid bekommen, erzählt Camargo.

Schon nach ein paar Wochen in der neuen Bleibe wurde das Desaster für die Umgesiedelten sichtbar. Die schnell zusammengezimmerten Billighäuser waren zu tief gebaut, Wasser trat überall ein. Von den Decken lösten sich Platten, im Bad fielen die Fliesen von der Wand.

Der Taxifahrer Iran Oliveira zeigte einem brasilianischen TV-Sender vor kurzem verbittert die Risse in seiner kleinen Wohnung und die feuchten Wände. Wir hatten keine Wahl, denn die Stadtverwaltung hat so viel Druck für den Umzug gemacht", sagt er aufgebracht. "Sie haben uns betrogen." (Susann Kreutzmann, 12.8.2017)