Ismael Ivos Gruppe Biblioteca do Corpo glaubt noch an die Kraft des künstlerischen Appells: Ihr Stück "Oxygen" fordert auf zu handeln, bevor es zu spät ist.

Foto: Alvise Nicoletti

Wien – Kunst geht alle an, weil sie mitten aus verschiedenen Gesellschaften kommt. In der diesjährigen, noch bis Sonntag laufenden Ausgabe von Impulstanz war zu erfahren, warum das auch für die zeitgenössische Choreografie gilt.

Im Festival konnte man sich als Besucher ein Bild davon machen, warum der Tanz zu den hyperprogressiven Kunstformen der Gegenwart gehört. Und darüber, welche Höhenflüge oder Härten damit verbunden sind, wenn Verbindungen zwischen Tanz, Choreografie, Performance, Musik, bildender Kunst, Film, Theater, Literatur respektive philosophischen Diskursen gesponnen und für den Moment einer Aufführung zu fiktiven Ereignissen aufgespannt werden.

Damit soll kein Ranking herbeigeplaudert oder gar behauptet werden, der Tanz wäre das ultimative Gesamtkunstwerk. Aber er hat sich zu einer Kunstform entwickelt, in der sich die Verbindungen zwischen der Körperkunst Tanz und anderen Genres verselbstständigen. Das heißt, wenn etwa Choreografen wie Philipp Gehmacher oder Ivo Dimchev auch als bildende Künstler arbeiten, schaffen sie zwischen Tanz und bildender Kunst etwas Eigenes und Neues.

Auch Impulstanz hat das erfasst und forciert seit einigen Jahren Kooperationen etwa mit dem Leopold-Museum und dem Mumok. Ebenfalls verstanden wurde vom Festival und seinen Partnern, dass das Aufeinandertreffen verschiedener künstlerischer Terrains zu unvergleichlichen Ereignissen führen kann. Konkret heißt das für das Publikum: Es konnte ins Theater oder ins Museum gehen, wenn es Tanz sehen wollte und erfahren, was die unterschiedlichen Erlebnisse etwa angesichts von Dada Masilos Balletten im Volkstheater oder bei Lisa Hinterreithners Do-Undo in Marin Becks Mumok-Ausstellung mit ihm machen.

Reichhaltige Formate

Jahr um Jahr wird deutlicher, wie auch ein Publikumsfestival mit diesmal insgesamt fast 130.000 Besuchern Diskurs- und Experimentierräume entwickeln kann und damit sowohl seine Dynamik erhöht als auch seine Struktur vertieft. Heute ist Impulstanz nicht mehr nur das europaweit größte Tanz- und Workshopfestival, sondern wohl eines der reichhaltigsten Formate seiner Art überhaupt.

Neben der Jungchoreografen-Plattform [8:tension] mit Prix Jardin d'Europe, etlichen Artistic-Research-Initiativen, dem Stipendiatenprogramm danceWeb, einem Atlas-Projekt zur Weiterbildung von praktizierenden Künstlern und dem IDOCDE Pädagogiksymposium gab es diesmal unter anderem die Jan-Fabre-Ausstellung im Leopold-Museum oder das Humane Body Project für Blinde und Sehbehinderte. Und noch bis Sonntag läuft das Symposium Crisis? What Crisis?! im alten Postgebäude Zollergasse. Außerdem erwähnenswert: das investigative Imaginary Performance House, ebenfalls in der Post, und das Urban Dance Festival im Arsenal. Zu viel ist das jedenfalls nicht, wie der rege Zuspruch auf allen diesen Ebenen zeigt.

Als künstlerische Highlights von Impulstanz 2017 zu bewerten sind so unterschiedliche Arbeiten wie Michael Laubs Fassbinder, Faust and the Animists, Mark Tompkins' Printemps sowie die beiden in ihrer Qualität und Radikalität unübertroffenen Stücke La Valse und Lettere amorose, 1999-2017 von Raimund Hoghe. Auch Jan Fabre hat in Belgian Rules / Belgium Rules ein packendes Spektakel geliefert.

Weitere internationale Glanzpunkte im Festival waren so kontroversielle Arbeiten wie Jaguar von Marlene Monteiro Freitas mit Andreas Merk und Everything Fits in the Room von Simone Aughterlony mit Jen Rosenblit. Ebenfalls herausragend: Somewhere at the Beginning von Germaine Acogny und Mikaël Serre, Dada Masilos Giselle sowie Christian Rizzos ad noctum. Zu den besten neuen österreichischen Werken zählen Anne Jurens Anatomie und Daniel Aschwandens Solo Goldberg 365.

Ein Wermutstropfen bleibt: Die Beschäftigung mit brennenden aktuellen Problemen wird im Tanz zurzeit weitgehend gemieden. Zu den Ausnahmen zählt da Ismael Ivo, der mit seinem Stück Oxygen am Samstag im Arsenal darauf hinweist, dass uns auf diesem Planeten bald die Luft ausgehen könnte. (Helmut Ploebst, 12.8.2017)