Bild nicht mehr verfügbar.

Von hier aus liegt der Nachbar nur weniger Meter entfernt: Studenten aus Südkorea in der Grenzregion zwischen Nord- und Südkorea.

Foto: REUTERS/Kim Hong-Ji

Als Lee Min-ah auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn sitzt, heult plötzlich ihr Smartphone auf. Fast zeitgleich ertönt es auch bei den anderen Passagieren. "Notfallwarnung" prangt in rot umrandeten Lettern auf dem Display. Als die 29-jährige Kulturschaffende die automatisch generierte Nachricht überfliegt, muss sie laut auflachen: Es ist kein Atomkrieg ausgebrochen, sondern nur eine erneute Hitzewelle. Die Seouler Stadtregierung mahnt ihre Bewohner an diesem schwülen Augusttag, bloß genug Wasser zu trinken.

Am U-Bahn-Ausgang des zentralen Gwanghwamun-Platzes weisen kleine Schilder den Weg zum nächsten Schutzbunker, doch die hastende Menschenmenge schenkt ihnen keinerlei Beachtung. "Zum Krieg wird es nicht kommen", sagt Lee Min-ah selbstsicher. "Auch als meine Mutter in meinem Alter war, gab es schon das gleiche Spiel." Trotz der regelmäßigen Drohungen sei bisher nie etwas Ernsthaftes passiert.

Außenstehende staunen dennoch darüber, mit welcher Gelassenheit die Bewohner Seouls mit der Bedrohung aus Nordkorea umgehen. Nur den Senioren, die die Auswirkungen des Koreakriegs (1950-1953) erlebt haben, erscheint die jetzige Bedrohung wesentlich realer. Auch in Diplomatenkreisen ist die Besorgnis höher als bei Krisen vergangener Jahre.

Hinter vorgehaltener Hand wird da etwa erzählt, dass die eigenen Kinder ihren Sommerurlaub in Europa verlängert haben, bis sich die Lage auf der koreanischen Halbinsel etwas entspannt. Offiziell wurden jedoch keine Reisewarnungen herausgegeben. Sollte es zum Krieg kommen, wäre Südkorea in jedem Fall der Leidtragende. Nur 50 Kilometer nördlich von Seoul beginnt schließlich die Demarkationslinie, an deren Berghängen tausende nordkoreanische Raketenwerfer ihre Visiere ausgerichtet haben – auf einen Ballungsraum, in dem die Hälfte aller 51 Millionen Koreaner leben.

Als Erstes würde in einem solchen Szenario wohl die City Plaza unter Beschuss genommen: Das Seouler Rathaus befindet sich hier, auch der Präsidentensitz sowie alle wichtigen Tageszeitungen und historischen Paläste sind nur einen Steinwurf entfernt. An diesem Freitagabend ist jedoch von Panik nichts zu spüren.

"An Dauerkrise gewöhnt"

Stattdessen hat die Seouler Stadtregierung zum Open-Air-Festival gerufen: Jungfamilien lauschen zuckersüßem Gitarrenpop, Jugendliche schießen Selfies mit einem Instagram-würdigen Sonnenuntergang im Hintergrund. "Wir haben uns mittlerweile schon an die Dauerkrise gewöhnt", sagt die 21-jährige Yoo-jeong, die in Seoul Russisch studiert. "Was mich vor allem stört, ist, dass mein Bruder wegen der Nordkoreaner zwei Jahre lang zum Wehrdienst muss", sagt sie.

Dabei ist ihr Großvater einst selbst in Nordkorea geboren – ausgerechnet in Kaesong, das wie keine Stadt für die Teilung des Landes steht. Direkt am 38. Breitengrad gelegen, wurde sie während des Koreakriegs von beiden Seiten mehrmals erobert. Um die Jahrtausendwende entstand dort eine Sonderwirtschaftszone, in der nordkoreanische Arbeiter für südkoreanische Fabrikarbeiter Textilien produzierten.

Längst ist das Gelände verlassen, eine Wiedereröffnung in weite Ferne gerückt. Ob Yoo-jeong davon träumt, einmal die Geburtsstadt ihres Großvaters zu besuchen? "Selbst wenn ich könnte, hätte ich kein Interesse daran, Nordkorea zu besuchen. Da reise ich lieber ins Ausland." (Fabian Kretschmer aus Seoul, 12.8.2017)