"Die Zeit geht nicht schneller als früher, wir laufen nur eiliger an ihr vorbei", schrieb der Schriftsteller George Orwell.

Tatsächlich könnten Menschen heute mehr Zeit haben – die Lebenserwartung steigt, es wird weniger gearbeitet, Transportwege verkürzen sich. Nicht zuletzt auch dank digitaler Geräte könnte man vieles schneller und problemloser erledigen. Gleichzeitig sagt in Umfragen eine Mehrheit, dass sie das Gefühl hat, keine Zeit zu haben. Die Reaktion: sich selbst und sein Leben immer weiter zu beschleunigen, immer mehr Aktivitäten in einen Tag zu packen.

Das sei widersprüchlich und sonderbar, sagt der deutsche Zeitforscher Karlheinz Geißler – er ist der Meinung, dass wir es auch ganz anders machen könnten. Wie genau, darüber hat er gemeinsam mit seinem Sohn Jonas Geißler, Trainer und Zeitberater, ein Buch veröffentlicht: "Time is honey". Es soll den Weg zu "besseren Zeiten" aufzeigen.

Was bessere Zeiten sind? Jene, "in denen die Schnellen nicht die Besseren und Erfolgreicheren und die Langsamen nicht die Verlierer sind". Insofern kann das Buch also als eine Art Anleitung zur Langsamkeit, zum bewussteren Tun und vor allem auch Lassen verstanden werden. Ein Ratgeber, wie es wieder möglich werden soll zu genießen. Neben ausführlichen theoretischen Abschnitten – von der Kritik am Zeitmanagement bis zu derzeitigen kulturellen und wissenschaftlichen Konzepten – finden sich in den 254 Seiten auch Anregungen für den Alltag. Ein Auszug:

• Zeitoasen schaffen

Man solle sich immer wieder einmal Zeit für die Zeit schaffen, schreibt Geißler – gemeint ist eine möglichst störungsfreie Atmosphäre. "Versuchen Sie, auf Distanz zu Ihren Zeitvorstellungen zu gehen." Das könne durch Selbstbeobachtung geschehen, in der Badewanne, beim Waldspaziergang. Aber auch im Gespräch mit Freunden. Wer hat welches Bild von Zeit?

"Für den Uhrzeitmenschen hört Zeit auf, wo sie verspricht, lebendig, bunt und abwechslungsreich zu werden. Von diesen Zeiteinheiten gehen keine Überraschungen aus", schreibt Zeitforscher Karlheinz Geißler, der zum "Abstand von der Uhr" rät.
Foto: iStockphoto

• Die Uhr abnehmen

Uhren "trägt man nicht, man erträgt sie nur", meint Geißler. Sein Argument: Uhren erzeugten einen wahrgenommenen Zeitmangel überhaupt erst. Daher empfiehlt der Zeitforscher, einmal täglich zu prüfen, wie oft man auf die Uhr schaut und bei welchen Gelegenheiten. Dann gelte es, einen Tag pro Woche ohne Uhr aus dem Haus zu gehen. "Sie werden sehen, nach und nach verbessert sich Ihr Zeitgefühl" – und es gelinge wieder besser, die Dinge rundherum zu genießen. Ein weiterer Tipp ist, nicht zu fragen, wie viele Minuten etwas gedauert hat, sondern nach der Zeitqualität, also "was man in dieser Zeit erlebt oder erfahren hat".

"Keine Zeit": Der weiße Hase im Film "Alice im Wunderland" ist zu spät. Auch in der Realität fühlen sich viele von der Uhr getrieben.
rayjaxter

• Den natürlichen Rhythmus einhalten

Mehr vom Tag hätten jene, die ihren Tag entlang der natürlichen Dynamik leben – Geißler nennt sie die "Zeitnatur". Was man wann braucht, lasse sich am besten in freien Zeiten wie am Wochenende oder im Urlaub herausfinden.

• Rituale und Routinen

"Schaffen Sie sich kleine Rituale, die dem Alltag Zeitstruktur verleihen", empfiehlt Geißler. "Beginnen Sie bereits in der Früh damit, denn eigentlich ist es ja eine Zumutung, jeden Morgen das warme Bett verlassen zu müssen. Da braucht es einige Gewohnheiten, die einem helfen." Das könnten Frühstücksrituale sein, die gewohnte Tasse Kaffee, die Lektüre einer Tageszeitung. "Am Ort der Arbeit kann es dann weitergehen mit dem Zehn-Uhr-Espresso."

Bild nicht mehr verfügbar.

Geißler: "Ein Tipp: Organisieren Sie Ihren Alltag wie einen Emmentaler Käse: mit festen Strukturen (unter anderem Ritualen und Terminen) und mit nicht allzu wenigen Löchern (in denen Sie die Zeit auf sich zukommen lassen)."
Foto: EPA/Christoph Ruckstuhl

Aber nicht alles sollte durchgeplant werden. Geißler: "Ein Tipp: Organisieren Sie Ihren Alltag wie einen Emmentaler Käse: mit festen Strukturen (unter anderem Ritualen und Terminen) und mit nicht allzu wenigen Löchern (in denen Sie die Zeit auf sich zukommen lassen)."

• Zwischenzeiten nutzen

Auch sogenannte Zwischenzeiten – den Arbeitsweg, die Kaffeepause – gelte es zu nutzen, sagt Zeitforscher Geißler. Denn sie brauche man, um sich auf das einzustellen, was danach kommt. Das gelinge zum Beispiel, indem man mit dem Rad und nicht mit dem Auto in die Arbeit fährt. Schaffen könne man sich auch Zeiträume, "in denen Sie dem Anspruch der 'Sofortness' nicht nachkommen." In denen man etwa nicht mobil erreichbar ist – und auch von anderen nicht erwartet, sofort auf Nachrichten zu reagieren.

Zeitformen, die immer mehr zu verschwinden scheinen, sind Pausen und Warten.
Foto: istock

• Pausen machen

Regelmäßige Pausen "strukturieren den Alltag, schaffen Orientierung und entlasten von Zeitentscheidungen". Die spontanen "dienen der Belastungsreduktion, der Erholung und der Wiederherstellung der Arbeitskraft", schreibt Geißler. In den Pausen solle man tun, was man davor nicht getan hat. "Haben Sie lange gesessen, stehen Sie auf, sind Sie viel gelaufen, setzen Sie sich hin."

"Slow down, you move too fast", singen Simon & Garfunkel.
summitmusic70

• Raum lassen für die Muße

Viele Erlebnisse und Erfahrungen passierten nur, wenn man versuche, "sie nicht gezielt herbeizuführen", sagt Geißler. "Es ist ihre Unplanbarkeit, die ihre Attraktivität ausmacht. Das gilt für die Liebe, und das gilt auch für die Muße und die Stunden des Selbst- und Weltvergessens." Aber kann man Muße lernen? Geißler gibt keine handfesten Tipps, aber Hinweise: "Verplanen Sie nicht sämtliche Zeiten des Tages, lassen Sie Raum für Offenes und Überraschendes." Oder: "Üben Sie sich im Verschwenden." Und er hat sogar einen Musiktipp: "Feelin' Groovy" von Simon & Garfunkel – "über die Annehmlichkeiten des temporeduzierten Lebens und den Genuss der Dauer".

Man könne auch eine Art "Let it be"-Liste erstellen, bei der man sich am Abend notiere, was man am nächsten Tag sein lassen will. Und: "Widerstehen Sie der Versuchung, die frei gewordene Zeit irgendwie zu füllen, lassen Sie die Zeit auf sich zukommen. Dann hat Muße eine Chance." (lib, 17.8.2017)