Meral Akşener (Mitte), könnte Tayyip Erdoğan gefährlich werden.

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Ankara/Wien – Als Inbegriff der Leichtigkeit und Lebensfreude ist Samsun nicht gerade bekannt. Für die mit einer halben Million Einwohnern größte türkische Hafenstadt am Schwarzen Meer gilt, was für die Mehrheit der Menschen an der knapp 1.000 Kilometer langen Küste zutrifft: Sie sind in sich gekehrt, fromm und stramm konservativ. Auf einem Inlandsflug nach Samsun kann es durchaus passieren, dass sich ein männlicher Passagier weigert, eine Sitzreihe mit zwei Frauen zu teilen.

Nun soll ausgerechnet in Samsun eine neue Partei gegründet werden, die vielleicht die türkische Politik umkrempeln wird. Meral Akşener hat sich die große trübe Hafenstadt ausgesucht. Denn die "eiserne Lady" der türkischen Nationalisten will mit dem schon länger erwarteten Start einer neuen Partei ein Symbol setzen. Im Hafen von Samsun landete 1919 ein Armeeinspektor. Doch statt die Überreste der osmanischen Armee für den Sultan einzusammeln, begann Mustafa Kemal Atatürk, der türkische Republikgründer, von Samsun aus seinen Unabhängigkeitskrieg.

Atatürk-Nationalistin

Eine Replika der SS Bandirma, des schon seinerzeit betagten Fracht- und Fährschiffs, mit dem Kemal Atatürk angekommen war, steht heute an einem Hafenkai in Samsun. Tayyip Erdoğan hat 2003, in seinem ersten Regierungsjahr, das dazugehörige Museum eröffnet. Auch Erdoğans Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Nun ist es eine Atatürk-Nationalistin, die seine autoritäre Herrschaft bedroht.

Seit ihrem Ausschluss aus der rechtsgerichteten Nationalistenpartei MHP im vergangenen Jahr ist Akşeners politische Zukunft eines der meistdiskutierten Themen in der Türkei. Die Mehrheit im Land liegt politisch rechts von der Mitte. Dass die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratisch ausgerichtete CHP, jemals Erdoğan und dessen konservativ-religiöse AKP entthronen könnte, gilt deshalb als unwahrscheinlich. Mit Meral Akşener ist das anders. Die populäre 61-Jährige, die als bisher einzige Frau in der Türkei das Amt der Innenministerin bekleidete – wenn auch nur für ein halbes Jahr während einer Koalitionsregierung in den 1990er-Jahren –, könnte rasch eine ernsthafte Herausforderin für Tayyip Erdoğan werden.

Erdoğans AKP habe konzentrische Kreise von Unterstützern mit unterschiedlich großer Nähe zur Partei, erklärt İlter Turan, emeritierter Istanbuler Politikprofessor und TV-Kommentator. "Einige dieser Unterstützer brachten es nie über sich, für die CHP oder die HDP (prokurdische Minderheitenpartei, Anm.) zu stimmen. Aber sie würden es für eine Atatürk-Partei tun." Dies sind die türkischen Wähler, die bisher nie eine Alternative zur Regierungspartei sahen, sagt Turan.

Özal- und Demirel-Rezept

Meral Akşeners Partei aber würde sich wohl rechts der Mitte platzieren, als säkulare konservative Partei in der Tradition der erfolgreichen Mutterlandspartei (Anap) von Turgut Özal oder der Partei des rechten Weges (DYP) von Süleyman Demirel in den 1980er- und 90er-Jahren; beide waren langjährige Regierungschefs und später Staatspräsidenten. Akşeners Mitstreiter – bisher führende Mitglieder der MHP – haben nun die Gründung der neuen Partei für Oktober oder November angekündigt.

Reihenweise Austritte aus der MHP werden bereits auf Provinzebene gemeldet. Nach einer Parteigründung wird die Bildung einer eigenen Fraktion im derzeitigen Parlament mit wenigstens 20 Abgeordneten erwartet.

Der türkische Staatschef ist sich der Gefahr wohl bewusst. Zu Wochenbeginn ließ er groß den eher weniger runden 16. Jahrestag der Gründung seiner Partei feiern. Erdoğan nutzte den Anlass für eine weitere Gardinenpredigt an Funktionäre und Abgeordnete der AKP. Seit der Rückkehr an die Parteispitze nach dem Verfassungsreferendum im April mahnt er die AKP-Mitglieder zu mehr Engagement und lässt den Parteiapparat verjüngen. Wer sich zu müde fühle, solle seinen Platz räumen, empfahl der Chef.

Gemeinsame Parlaments- und Präsidentenwahlen finden spätestens im Herbst 2019 statt. Akşeners neue Partei dürfte leicht die Zehn-Prozent-Hürde nehmen. Entscheidend aber ist die Präsidentenwahl. Akşener könnte Erdoğan durchaus zum Stichentscheid in der zweiten Runde zwingen, glaubt der Politologe İlter Turan. (Markus Bernath, 15.8.2017)