Bild nicht mehr verfügbar.

Unklarheit über die Zukunft nach dem EU-Austritt herrscht nicht nur beim Brexit-Musical in Edinburgh.

Foto: Reuters/Cheyne

Die britische Regierung von Premierministerin Theresa May möchte nach dem EU-Austritt für bis zu drei Jahre weiter der europäischen Zollunion angehören, gleichzeitig aber eigene Freihandelsverträge mit Drittländern vereinbaren. Dies geht aus einem Arbeitspapier hervor, das am Dienstag vom zuständigen Brexit-Ministerium in London vorgelegt wurde. Minister David Davis kündigte an, die Vorschläge Ende des Monats in die nächste Verhandlungsrunde mit Brüssel einzubringen. Die Einigung über eine entsprechende Übergangsfrist sei "im beiderseitigen Interesse".

Das Verhandlungsmandat der 27 verbleibenden EU-Mitglieder für Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier sieht Gespräche über das zukünftige Verhältnis zu Großbritannien erst nach Klärung akuter Probleme vor. Dazu gehören der Status von mehr als drei Millionen EU-Bürgern auf der Insel sowie gut einer Million Briten auf dem Kontinent, die Höhe britischer Zahlungen in die Gemeinschaftskasse sowie die Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland.

Dass Großbritannien auch nach dem Brexit keine Grenzkontrollstellen zwischen seiner Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland wünscht, hält die Regierung in einem Strategiepapier fest, das am Mittwoch vom Brexit-Ministerium in London veröffentlicht wurde. Wünschenswert sei stattdessen ein nahtloser und reibungsfreier Grenzverkehr ohne "physische Grenzinfrastruktur und Grenzposten", heißt es darin laut der Nachrichtenagentur Reuters.

EU skeptisch

Ein neues Zollabkommen mit der EU solle so ausgestaltet werden, dass Grenzposten nicht notwendig seien. Britische und irische Staatsbürger sollen sich weiterhin ungehindert zwischen Großbritannien und Irland bewegen können. Wie London die Einreise anderer Staatsbürger an der irisch-nordirischen Grenze kontrollieren will, war zunächst unklar. "Das Papier (...) ruft die EU dazu auf, diesen Zielen ebenfalls Vorrang einzuräumen, indem sie ein rasches Abkommen ins Auge fasst", steht weiters in der Mitteilung.

Die Grenzfrage ist einer der größten Streitpunkte in den Brexit-Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien. Rund 30.000 Menschen passieren jeden Tag die 500 Kilometer lange Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland ohne Zoll- oder Einreisekontrollen. Beide Seiten müssten bei dem Thema Flexibilität zeigen, sagte ein Vertreter der britischen Regierung. Eine Rückkehr zu den Grenzposten der Vergangenheit sei nicht akzeptabel. In der EU ist die britische Idee einer unsichtbaren Grenze bereits auf Skepsis gestoßen.

Erst auf dem Gipfel im Oktober wollen die Staats- und Regierungschefs je nach Fortschritt der Verhandlungen grünes Licht für die Besprechung weiterer Themen geben. Michel Barnier hat sich zuletzt im Juli skeptisch bezüglich der bisherigen britischen Lösungsvorschläge geäußert. Hingegen behauptete Davis am Dienstag, die Partner hätten "erheblichen Fortschritt" gemacht: "Wir kommen unglaublich gut voran." Allerdings sei das für Außenstehende nicht immer erkennbar, schließlich gehöre zu Gesprächen auch "konstruktive Zweideutigkeit".

Unrealistische Konzepte

Erste Reaktionen aus Brüssel fielen negativ aus. Der von London gewünschte "reibungslose Handel" sei außerhalb des Binnenmarkts und der Zollunion nicht möglich, bekräftigte ein Sprecher der Kommission. Ins gleiche Horn stieß Belgiens Expremier Guy Verhofstadt, den das EU-Parlament als Chefunterhändler benannt hat: "Gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Zollunion zu sein" sei ebenso unrealistisch wie das Konzept von "unsichtbaren Grenzen". Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer nannte die Regierungsvorschläge "zusammenhangslos, unzureichend und widersprüchlich".

Das 13-seitige Arbeitspapier bildet die Grundlage für weitere Diskussionen mit den betroffenen Branchen. Es soll im Herbst in ein Weißbuch und ein neues Zollgesetz münden. Die vorgeschlagenen Lösungen werden als "beispiellos" und als "Herausforderung" beschrieben. Es gehe darum, unnötige Störungen des EU-Handels zu minimieren. Dieser macht knapp die Hälfte der britischen Handelsströme aus: 2016 exportierten mehr als 200.000 britische Unternehmen Waren und Dienstleistungen im Wert von 230 Milliarden Pfund (253 Milliarden Euro) in die 27 Partnerländer, der Import in die umgekehrte Richtung betrug 290 Milliarden Pfund (319 Milliarden Euro).

Davis und Seehofer

An diese aus Sicht Europas positive Handelsbilanz haben die britischen EU-Feinde stets ihre Zuversicht geknüpft, Brüssel werde der Insel weit entgegenkommen. Brexit-Minister Davis schlug in diese Kerbe, indem er in seinen Interviews mehrfach auf einen kürzlich stattgefunden habenden Besuch bei Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer in München hinwies. Die dort ansässigen Industrieunternehmen wie BMW und Siemens hätten größtes Interesse daran, den Handel über den britischen Kanal im bisherigen Umfang zu erhalten.

Erst am Wochenende hat die Regierung ihren Kurs auf einen harten Brexit inklusive Austritts aus Binnenmarkt und Zollunion im März 2019 bekräftigt. Dass jetzt überhaupt von Übergangsregelungen die Rede ist, wird in London als Sieg der Brexit-Skeptiker um Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark gewertet. Ihnen hatten die Lobbyisten der betroffenen Firmen eindringlich die Gefahren eines abrupten Austritts aus Binnenmarkt und Zollunion vor Augen geführt. Die Finanzindustrie, die elf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, forderte am Dienstag eine rasche Einigung für Übergangsregelungen, die auch Dienstleistungen mit einschließen. (Sebastian Borger aus London, 15.8.2017)