Ein Evangelium, in dem niemand Geringerer als Jesus davon spricht, dass nach ihm jemand kommen würde, der wichtiger wäre? Und dieser jenige ist dann, wie sich im Verlauf der weiteren Darstellung herausstellt, justament Mohammed, der Gründer des Islam?

Was reichlich abstrus klingt, gibt es tatsächlich. Das sogenannte "Evangelium des Barnabas" ist spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, als der anglikanische Priester Lonsdale Ragg das mit seiner Frau Laura verfasste Buch "The Gospel of Barnabas" veröffentlichte. Darin wird der italienische Text des Evangeliums editiert und mit einer umfangreichen Einleitung versehen. 

Aus den italienischen übersetzte Lonsdale Ragg mit seiner Frau das "Evangelium".
Foto: University of Toronto

Begeisterte Rezeption in der islamischen Welt

Das Barnabas-Evangelium fand bald eine äußerst begeisterte Rezeption in der islamischen Welt, im Zuge derer zahlreiche Übersetzungen in verschiedene islamrelevante Sprachen erstellt wurden. Die wichtigste davon wurde auf Betreiben des bedeutenden ägyptischen Reformdenkers Rashid Rida (1865-1935) veröffentlicht, der sich für den Text begeisterte.

Endlich wäre die Wahrheit über die Lebensgeschichte und eigentliche Aufgabe Jesu, der ja auch im Islam eine wichtige Rolle als Prophet hat, gefunden. Diese Argumentation steht im Zusammenhang mit der islamischen Tradition um den sogenannten "Tahrīf", womit man sich auf die angebliche Verfälschung  einer ursprünglich korrekten Offenbarung an die Propheten vor Mohammed bezog. Das betraf die Schriften des Christentums, aber auch die des Judentums, deren Torah ja gemäß der islamischen Theologie ebenfalls ein bedeutender Offenbarungstext ist.

Einleitung zur arabischen Übersetzung in der Zeitschrift al-Manar. Titel: "Das wahre Evangelium".
Foto: Archive.org/Community Arabic Texts

Der unbekannte "Apostel" Barnabas

Die Faszination mit dem Barnabas-Evangelium hält bis in die Gegenwart an. Erst 2007 wurde im Iran ein Film veröffentlicht, der im internationalen Vertrieb mit dem Titel "The Messiah" präsent ist (im Persischen eigentlich: Bishārat monji, wörtlich etwa: "Frohbotschaft des Erlösers"). Er wurde als eine Art Antwort auf Mel Gibsons vieldiskutierten Film "Die Passion Christi" interpretiert und soll eine islamische Perspektive auf Jesus präsentieren. Dabei wurde vom Regisseur Nader Talebzadeh bewusst auch auf Elemente des Barnabas-Evangeliums zurückgegriffen, was bei der Ausstrahlung des Films im Libanon zu teilweise heftigen Protesten der Christen dort führte. Ausgehend von türkischen Medienberichten machte im Jahr 2012 zudem ein vermeintlicher Textfund eines "originalen" aramäischen Barnabas-Evangeliums in Ostanatolien die Runde, der allerdings noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde – und den bislang veröffentlichten Fotos nach nicht den Eindruck macht, das vermeintliche Original zu sein.

Dass man allerdings erst Anfang des 20. Jahrhunderts beziehungsweise in einigen wenigen Fällen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts auf diesen Text gestoßen war und bis dahin kein einziger islamischer Autor, weder der klassischen Zeit noch danach, auch nur irgendetwas von diesem ominösen Evangelium wusste, hätte allerdings stutzig machen müssen. Und sollte es auch, denn nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich bei diesem zweifellos faszinierenden Text um eines sicher nicht: eine authentische Lebensbeschreibung Jesu, geschrieben vom "Apostel" Barnabas, wie der Text in seiner Einleitung vorgibt.

Ein (vermeintliches) Original des Barnabas-Evangeliums gibt es bislang nicht und es wird auch niemals gefunden werden. Der Text liegt vielmehr in zwei, eindeutig spät entstandenen Handschriften vor. Eine davon – die einzig vollständig erhaltene – liegt in der Handschriftensammlung der Wiener Nationalbibliothek und stammt eigentlich aus der umfangreichen Privatbibliothek des Prinzen Eugen. Es handelt sich dabei um ein in einem wilden toskanischen Italienisch mit venezianischen Dialekteinschlägen gehaltenen Text mit zahlreichen Randnotizen in einem teilweise horriblen Arabisch.

Faksimile des Beginns des italienischen Barnabas-Evangeliums.
Foto: University of Toronto

Die Datierungsversuche schwanken zwischen dem 14. Jahrhundert und dem 16. Jahrhundert und seine äußere Gestalt lässt am ehesten an Istanbul als Ort denken, an dem es hergestellt wurde. Zusätzlich zu diesem eindeutig älteren italienischen Text ist seit dem 18. Jahrhundert etwas von spanischen Versionen bekannt, wovon 1976 in der Universitätsbibliothek von Sydney ein Fragment entdeckt wurde, das ungefähr die Hälfte des Textes umfasst. Es unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom italienischen Text und scheint so etwas wie eine klärende Übersetzung zu sein.

Warten auf Mohammed

Was beinhaltet der erhaltene Text dieses "Evangeliums" nun? Eigentlich handelt es sich um eine recht umfangreiche Lebensbeschreibung Jesu in 222 Kapiteln von dessen Geburt bis zur Kreuzigung. Die Grundstruktur und viele Inhalte beruhen zu großen Teilen auf den bekannten Evangelien des Neuen Testamentes. All dies ist aber an wesentlichen Stellen um Inhalte erweitert, die das Wirken Jesu in ein völlig anderes Licht rücken.

Seine eigentliche Aufgabe wäre es nämlich gewesen, auf die bevorstehende Ankunft eines um vieles bedeutenderen Religionsgründers hinzuweisen, der nach ihm kommen wird. Und spätestens in der zweiten Hälfte des Evangeliums wird nun derjenige, auf den vorverwiesen wird, beim Namen genannt: es ist niemand Geringerer als Mohammed, der spätere Gründer des Islam.

Dazu kommen Materialien, die im Wesentlichen nicht aus der christlichen Tradition stammen, so zum Beispiel eine recht kuriose Erweiterung der Legende um den biblischen Patriarchen Abraham und dessen rebellische Jugendzeit, oder die Darstellung von einer Gruppe von "wahren Pharisäern", die schon auf den alttestamentlichen Propheten Elija zurückgehen soll und immer schon dem absoluten Monotheismus verpflichtet war. Ein finale furioso hat der Text schließlich in einer umgeschriebenen Passionsgeschichte, die wesentliche Inhalte der christlichen Überlieferung aufhebt. Die Kreuzigung findet zwar statt, doch wird nicht Jesus, sondern Judas gekreuzigt. Dieser wurde nämlich von Gott persönlich in einem unbeachteten Moment in Jesus verwandelt und trotz vielfach wiederholter Beteuerungen, nicht der richtige zu sein, wird er schließlich ans Kreuz gehängt – quasi als gerechte Bestrafung für den Verrat.

Laut Barnabas war es die Aufgabe Jesu auf den Propheten Mohammed vorzubereiten.
Foto: REUTERS/Amr Abdallah Dalsh

Ursprung in der Kultur der Morisken?

Das Barnabas-Evangelium ist zweifellos ein Kuriosum der Literatur- und Religionsgeschichte. Woher kann nun ein solcher Text stammen? Wer nimmt eine solche Mühe auf sich, startet ein so umfangreiches Unternehmen um eine vermeintliche Korrektur der christlichen Evangelien? Untersuchungen über die faktische Herkunft des italienischen Textes haben bislang keine wirklichen Ergebnisse gebracht. Die ersten Beschreibungen des Manuskripts stammen aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert und verbinden den Text mit einem freidenkerischen antitrinitarischen Milieu in Amsterdam, wo sich allerdings alle Spuren verlieren.

Bislang gibt es nur einen einzigen Erklärungsversuch, der ein spezifisches religiöses Milieu festmachen kann, in dem die Entstehung eines solchen Textes zumindest plausibel erscheint und noch dazu Parallelen hat. Es handelt sich um die genannten moriscos, das sind die zum Christentum zwangskonvertierten Muslime Spaniens. Nach Abschluss der "Reconquista" der iberischen Halbinsel durch die "katholischen Könige" mit der Kapitulation von Granada 1492, mussten sich die vielen Muslime des ehemaligen al-Andalus mit der neuen Situation arrangieren. Anfänglich wurde die Ausübung ihrer Religion geduldet, doch ab 1502 setzten Zwangskonvertierung und die Enteignung der muslimischen religiösen Institutionen ein. Den Muslimen erging es hier übrigens ähnlich wie die Juden, die zwangsweise zu den conversos wurden. Weil man davon ausging, dass viele ihren Glauben weiter heimlich ausführten und nur äußerlich zum Katholizismus konvertierten, war eine der Aufgaben der spanischen Inquisition dann auch die Überführung dieser versteckten Muslime. All dies endete zwischen 1609 und 1614 mit der endgültigen Vertreibung der noch verbliebenen sogenannten moriscos (wörtlich eigentlich "kleine Mauren"). Diese zerstreuten sich in eine Diaspora, wo neben dem nordafrikanischen Raum auch das damalige islamische Großreich der Osmanen relevant war.

Die Moschee-Kathedrale in Cordoba wurde während der maurischen Zeit erbaut.
Foto: AP/Manu Fernandez

Es gibt nun erstaunliche Textfunde, die im Zusammenhang mit der Moriskenkultur stehen und die einen einzigartigen Einblick in eine ganz eigentümliche Religionstradition erlauben. Am faszinierendsten sind die sogenannten "Aljamiado"-Texte, die in verschiedenen ibero-romanischen Sprachen, aber in arabischen Buchstaben geschrieben sind – was eine Möglichkeit darstellte, ihren Inhalt zu verschleiern. Die heutigen Reste dieser Literatur bieten zum Teil literarisch äußerst anspruchsvolle Zeugnisse, beispielsweise Gedichte über biblische Gestalten wie Joseph oder Legenden um verschiedene historische Figuren.

Neben diesen Versuchen einer Verheimlichung war eine weitere Option der unterdrückten Morisken der aktive literarische Angriff. Die aufsehenerregendste Episode in diesem Zusammenhang waren die so genannten "Bleiernen Bücher" oder "Bleibücher vom Sacromonte" (Plomos oder Libros plúmbeos del Sacromonte). Zwischen 1595 und 1606 wurden in Höhlen unter dem Kloster auf dem Sacromonte in Granada – direkt gegenüber der berühmten muslimischen Alhambra – 22 "Bücher" gefunden, die aus runden, zusammengehängten Bleitafeln bestanden.

Sie waren in einer seltsamen Mischung aus Arabisch und Latein beschrieben und erzählten eine unglaubliche Geschichte: Die Jungfrau Maria hätte sich an den Apostel Jakobus und den heiligen Cäcilius gewandt und sie mit der Christianisierung Spaniens bereits im ersten Jahrhundert betraut. Und dieses antike Spanien hätte ein ganz anderes Gepräge gehabt: Arabisch wäre nämlich schon damals die Sprache der Einwohner gewesen und die ersten Christen Granadas seien eigentlich Araber gewesen. Die Funde wurden anfänglich vom örtlichen Klerus sehr begeistert aufgenommen, weil sie die Vorherrschaft Granadas über alle anderen christlichen Zentren zu beweisen schienen. Doch blieben viele skeptisch und nach Überführung der Texte 1642 nach Rom und einer eingehenden Untersuchung wurden sie 1682 als Fälschungen verworfen. Man geht heute davon aus, dass sie von Intellektuellen aus dem Moriskenmilieu stammen, da diese die enge Verbindung Spaniens mit den Arabern suggerieren und christlich beweisen wollten.

Anspruch auf Wahrheit

Mit diesem genannten intellektuellen und hochliterarischen Milieu könnte man auch am ehesten die Entstehung des Barnabas-Evangeliums verbinden. Es wurde sogar versucht, einen konkreten Namen zu nennen. So wäre beispielsweise der in einer Moriskenfamilie geborene Miguel de Luna (circa 1545-1615) ein potentieller Kandidat, der noch dazu schon einmal eine aufsehenerregende Fälschung vorlegte: In seine Buch La verdadera historia del rey Rodrigo ("Die wahre Geschichte von König Roderic") legt er eine alternative Version der muslimischen Eroberung der Iberischen Halbinsel vor, die die Araber und den Islam positiv besetzen will. Ein umgeschriebenes, neues christliches Evangelium wäre eine willkommene Fortsetzung dieses Unternehmens.

Man könnte nun den Fälschungscharakter dieses Evangeliums in den Vordergrund rücken. Und man darf in der Tat bei so gearteten Erzeugnissen das Glücksrittergehabe, die Chuzpe der Autoren und ihr Vertrauen auf ein mundus vult decipi – die Welt will betrogen werden – nicht außer Acht lassen. Allerdings sind Begriffe wie "Fälschung" oder ähnliches in der Religionsgeschichte schwierig abzugrenzen. Alle Religionen sind voll von Texten, die Ansprüche erheben, die jenseits jeglicher Beweis- und Verifizierbarkeit sind. Zuschreibungen zu Autoren und die Inanspruchnahme religiöser Autoritäten gehören zum Gemeingut so gut wie aller religiösen Literatur. Deshalb sollte man diesen Text vielleicht mehr als Ausfluss des jahrtausendealten Ringens von genetisch eng miteinander verbundenen Religionen interpretieren, als Amalgam, das sich an den vielen möglichen Schnittstellen und Übergangsfeldern der so nah verwandten Religionen Judentum, Christentum und Islam entwickelte. (Franz Winter, 23.8.2017)

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