Ein Bild der Serie "Architecture of Density", die für den Fotografen Michael Wolf auch ein Statement über die in Hongkong herrschende Kluft zwischen Arm und Reich ist.

Foto: Michael Wolf

STANDARD: Sie sind nach Hongkong gezogen, ohne vorher dort gewesen zu sein? Wie kam es zu diesem Entschluss? Und warum Hongkong?

Wolf: 1993 hatte ich das Gefühl, dass alles, was ich fotografierte, schon fotografiert worden war. Ich drohte, zum Zyniker zu werden. Ich stellte mir vor, woanders zu leben, in einer mir fremden Kultur. Wegen der Nähe zu China, das damals noch ein unentdecktes Land war, und weil ich die chinesische Küche liebe, entschloss ich mich für Hongkong.

STANDARD: Im Augenblick gibt es Rückblicke auf die ersten 25 Jahre, seit Hongkong keine Kronkolonie mehr ist. Diese zeitpolitische Ebene fehlt in Ihren Fotos.

Wolf: Eigentlich nicht. Die aktuelle Politik spiegelt sich nicht direkt in meinen Arbeiten wider, ist aber immer präsent. Sowohl "Architecture of Density" als auch "100 x 100" sind ein Statement über die extreme Kluft zwischen Arm und Reich, die in Hongkong herrscht.

STANDARD: Im Überblick wirkt Ihr Werk geradezu klassisch. Sie erforschen geduldig ein bestimmtes, selbst gewähltes Terrain, und werfen dabei einen Blick in jede Ecke.

Wolf: Als ich mit der Auftragsfotografie aufhörte, war es eine Befreiung, keinen Auftraggeber im Nacken zu haben, nicht an Doppelseiten in einem Magazin und an eine Deadline denken zu müssen. Im Vergleich zu früher arbeite ich nur noch an Projekten, die mich wirklich interessieren.

STANDARD: Ihre Herangehensweise ist im Grunde diskret. Nur in "Tokyo Compression" rücken Sie den Leuten so richtig auf den Pelz. Wie war das?

Wolf: Ich hatte keine Scheu, diese Bilder zu machen. Meine Ausbildung als Fotojournalist hat mich trainiert, ganz selbstverständlich nahe an die Menschen heranzugehen.

STANDARD: Wie denken Sie dahingehend über den Ruf nach Safe Spaces und Trigger Warnings vor allem bei jungen Leuten? Ist diese Form von Rücksichtnahme eine Gefahr für die Fotografie oder die Freiheit der Kunst?

Wolf: Mit meinem 19-jährigen Sohn habe ich eingehend über dieses Thema diskutiert, und der Konsens war, dass es Quatsch ist. Man muss der Welt begegnen, wie sie nun mal ist. Es gehört zum Leben dazu, extreme Positionen auszuhalten und darauf zu reagieren. (Peter Truschner, 16.8.2017)