Die im Namen des Geschäfts per U-Bahn von A nach B beförderte Ressource Mensch: Bild aus Michael Wolfs Serie "Tokyo Compression" 2010–2013), die zu den bekanntesten Arbeiten des deutschen Fotografen gehört.

Foto: Michael Wolf

Wien – Bis zum 27. August gibt es im Rahmen der Fotomesse Rencontres d’Arles eine Werkschau des Fotografen Michael Wolf zu sehen: Life in the Cities. Wer immer den imposanten Innenraum der Kirche Frères-Prêcheurs betritt, erkennt schnell, dass er es mit einem der bedeutendsten Fotokünstler unserer Zeit zu tun hat, der unter anderem dreimal mit einem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde.

Gleichgültig, ob man vor dem Halbrund der aus 20.000 Plastikpuppen gefertigten Installation The Real Toy Story (2004) steht; oder ob man die zehn Quadratmeter große Box eines Hongkonger Musterapartments der Serie 100 x 100 (2006) betritt, Wolfs Arbeiten leisten einen Beitrag zur Archäologie der Conditio humana unter den Vorzeichen radikaler Globalisierung und Kommerzialisierung.

Die aus 20.000 Plastikpuppen gefertigten Installation "The Real Toy Story" (2004).
Foto: Michael Wolf

1972 beginnt Wolf ein Studium beim Fotografen Otto Steinert in Essen. 1976 startet er eine Karriere als Fotojournalist beim Stern. Eine Fotoreportage in der Essener Stadtverwaltung (1986) weist bereits die für Wolf charakteris tischen Merkmale auf: seine Fähigkeit, nebensächliche Details in den Vordergrund zu rücken und ihnen eine symbolische Be deutung zu verleihen; sowie jene Intimzonen aufzuspüren, in denen Menschen unter den Vorgaben des Profits und der Effizienz ihre Individualität behaupten können.

1994 zieht Wolf nach Hongkong. Seine Leidenschaft für das Sammeln führt zu der Serie Bastard Chairs (1995–2017). Die aus Ziegelsteinen, Plastik und Holz improvisierten Stuhlhybride wirken wie temporäre Skulpturen und verweisen einerseits auf den chinesischen Pragmatismus, andererseits auf die menschliche Kreativität, die selbst unter permanentem Zeit- und Produktionsdruck nicht stillsteht.

Einem breiteren Publikum bekannt geworden ist Wolf mit seinen Fotos zur Architecture of Density (2003–14), die den Mangel an Raum in einer Megacity wie Hongkong anschaulich machen. Der Horizont verschwindet, die Wohnung wird zur Zelle. Die serielle Totalität und Funktionalität verleihen Wolfs Bildern den Charakter von flirrenden Strichcodes aus Glas und Zement.

Ein Bild der Serie "Architecture of Density", mit der Wolf einem breiteren Publikum bekannt wurde.
Foto: Michael Wolf

In Serien wie Fuck You (2010-11) benützt Wolf Google Street View als Erweiterung der Street-Photography. In dem er die am PC hergestellten Bildausschnitte in hoher Verpixelung abfotografiert, gelingt es ihm, trotz voyeuristischer Vorgehensweise die Anonymität der Passanten zu wahren und ein Bild des digital vermessenen Menschen herzustellen.

Diesen respektvollen Zugang verwirft Wolf nur einmal: als er in seiner berühmten Serie Tokyo Compression (2010–13) die Zumutungen spürbar macht, die 40 Millionen Passagiere in Tokio täglich in der U-Bahn zu erdulden haben.

Zusammengepfercht wie Tiere in einem Viehwaggon, nicht mehr als eine im Namen des Geschäfts von A nach B beförderte Ressource, drängen sie sich aneinander, während Wolf ihre Gesichter fotografiert, die an die von Schweiß und Kondenswasser verwischten Fenster gepresst sind. Wer es nicht nach Arles schafft, sollte sich das 300 Seiten starke Buch Works besorgen, das der Verlag Peperoni Books zu überaus günstigen 50 Euro herausgibt. (Peter Truschner, 16.8.2017)