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Bulgarien, das ärmste Land der EU, ist zu einer international führenden Drehscheibe der Software-Entwicklung geworden.

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Junge Aufsteiger: Todor Gigilew (re.) ist CEO des Sofioter Software-Unternehmens Dreamix, Stojan Mitow sein Ko-Manager. Beide sind erst 30.

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"Wir leben in einer rosa Blase, und alles um uns herum ist dreckig", sagt Welisar Welitschkow scherzhaft. Er ist einer der Mitbegründer des populären bulgarischen Onlineshops grabo.bg

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Chillen in der Arbeitspause: Dimitar Dimitrow, Chef des Software-Unternehmens Accedia, und seine Managerin Temenuschka Panajotowa.

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An einem gewöhnlichen Tag checkt Dimitar Dimitrow den Fortgang eines Projekts für seinen ältesten Kunden, einen renommierten Finanzdienstleister mit Sitz in Südafrika, lässt vielleicht einen Termin für eine Präsentation an der privaten Software-Universität hier in Sofia ausmachen, spricht mit dem Büro in Palo Alto, schaut ein paar Stockwerke tiefer in der Küche vorbei, wo die Angestellten des Unternehmens, das Dimitrow mit Studienfreunden gründete, in Arbeitspausen an einem Fußballtisch kicken und Schokoriegel gratis aus Automaten ziehen. Selbst Bier, gekühlt und in Dosen gestapelt, liegt zur freien Entnahme bereit. Schließlich ist dies immer noch Bulgarien und nicht das Silicon Valley.

An einer Kopie der kalifornischen IT-Industriewelt sind die Computer-Cracks im kleinen Balkanland Bulgarien allerdings schon nicht mehr interessiert. Sie bauen mittlerweile ihr eigenes Geschäftsmodell auf. Bulgarien, das ärmste Land der EU, ist zu einer international führenden Drehscheibe der Software-Entwicklung geworden.

Fünf Neueinstellungen im Monat

Dimitar Dimitrow, der CEO des Software-Unternehmens Accedia, ist jetzt 28. Vor den Fenstern seiner Büroetage in Sofia steht grün und mächtig das Witoscha-Gebirge. Unten auf der Straße läuft das normale bulgarische Leben ab mit 500 Euro Durchschnittslohn und Pensionisten, deren Bezüge in etwa so hoch sind wie die monatliche Stromrechnung, die sie zahlen sollten. Bei Accedia aber brummt das Geschäft. Jeden Monat stellt das Unternehmen bis zu fünf neue Software-Ingenieure ein.

"Dieses Jahr machen wir vielleicht 80 Prozent Plus", sagt Dimitrow. "Es gab Jahre, in denen wir 130, 140 Prozent Wachstum hatten." Sein Unternehmen kennt nur Steilflug. Dabei ist Accedia noch keine fünf Jahre alt. Andere Software-Entwickler in Sofia berichten dasselbe. "Wir werden uns verdoppeln", sagt Stojan Mitow voraus, ein Manager von Dreamix.

Dieses ebenfalls junge IT-Unternehmen mit 50 Angestellten sucht wieder größere Büroräume in Sofia. Nicht ganz einfach. Die Immobilien, die geeignet wären, gehören in der Regel Leuten mit zweifelhaftem Ruf, sagt Stefan Grigorow, ein anderer Dreamix-Manager. Bulgarien ist zu weiten Teilen eine Oligarchenwirtschaft. Für die Dunkelmänner, die ihr Netz meist im Energiesektor und in der Bauwirtschaft ausgebreitet haben und sich nebenbei noch ein paar Medien oder eine Geschäftsbank halten, ist die IT-Branche im Land zu kompliziert. Dort haben sie bisher keinen Fuß in die Tür bekommen.

Lieber ohne die Regierung

Ein wesentlicher Grund dafür ist die internationale Ausrichtung vieler Softwareunternehmen. Dreamix oder Accedia entwickeln ihre Programme fast ausschließlich für ausländische Kunden, vom bulgarischen Markt lassen sie die Finger. Und die Regierung versuchen sie sich vom Leib zu halten. "Die Botschaft, die wir ihnen vermitteln, lautet: Lasst uns allein. Versucht nicht, uns zu helfen. Es geht uns bestens!", sagt Dimitrow scherzhaft. In Bulgarien regiert mit Unterbrechungen seit acht Jahren der Konservative Boiko Borissow, nun erstmals in einer Koalition mit rechtsgerichteten, EU-skeptischen Nationalisten.

Bulgariens Software-Entwickler produzieren billiger als Konkurrenten in Deutschland oder Großbritannien – um 30 bis 40 Prozent nach eigenen Aussagen –, aber nicht so billig wie Programmierer in Indien oder Brasilien. Zum Teil übernehmen sie Aufträge von den Großen der IT-Branche wie IBM, SAP oder HP. Nischenprodukte und Speziallösungen für Unternehmen machen den Großteil der anderen Arbeit aus – von Ideen für neue Apps bis zum kompletten digitalen Transfer von Arbeitsprozessen in einem Unternehmen. "Wir sind kreativ und flexibler als die Großen", sagt Dimitrow.

Auf längere Sicht aber reicht das Outsourcing-Geschäft nicht. Es geht um die Entwicklung eigener Softwareprodukte, erklärt Todor Gigilew. Der 30 Jahre alte CEO von Dreamix verweist auf die in Bulgarien traditionell starke Ausbildung in der Mathematik.

Geklauter Apple

Schon der Erfinder des Computers war Bulgare. Oder fast: John Atanasoff – das doppelte "ff" ist bei bulgarischen Emigranten beliebt – wurde in den USA geboren, doch sein Vater Iwan stammt aus einem Dorf im Süden Bulgariens. Zu Sowjetzeiten wurden die sozialistischen Brüderstaaten mit Computern aus Bulgarien beliefert, einer nachgebauten Apple-Version der 1970er-Jahre.

Die Affinität zur Computerwelt hat den politischen Umbruch von 1989 überdauert: Für einen so kleinen Markt wie Bulgarien gibt es eine erstaunliche Reihe eigener Softwareprodukte, die sich halten – das im Land weit verbreitete E-Mail-System abv.bg, der eigene Youtube-Ableger vbox7.com oder Pcloud, die, wenn auch in der Schweiz ansässige, bulgarische Antwort auf iCloud.

Olympia-Hirne

Wenn auch sonst kaum wo, schneidet Bulgarien bei der Internationalen Informatik-Olympiade regelmäßig gut ab. Im russischen Kazan kamen die bulgarischen Informatiker auf Platz fünf, dieses Jahr in Teheran auf Platz sieben hinter drei Japanern, einem Chinesen, Briten und US-Amerikaner.

In Sofia selbst gibt es jedes Jahr eine Reihe wichtiger Wettkämpfe für Programmierhirne wie das Hackathon oder nun, Anfang September, die erste Europäische Informatiker-Olympiade. Der Gewinner des Code-IT, des ältesten Wettbewerbs in dieser Sparte in Bulgarien, war im Juni dieses Jahres Alexander Georgiew. Er ist Chefprogrammierer bei Skyscanner in Sofia. Die Suchmaschine für Flug- und Hotelbuchungen, eine der meistgenutzten der Welt, öffnete im Herbst 2014 ein Büro in der bulgarischen Hauptstadt. Es war ein Zeichen für die internationale Attraktivität, die Bulgarien in der IT-Wirtschaft mittlerweile gewonnen hat. 32 Mitarbeiter hat die Niederlassung im Moment, in der Mehrzahl sind es Programmierer, die Software für Skyscanner weiterentwickeln.

Blue Card für ausländische Programmierer

Bulgariens IT-Sektor ist dabei noch klein. Er zählt rund 20.000 Beschäftigte und machte im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Euro Umsatz; das entspricht gerade einmal 2,7 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Die Softwarebranche könnte sehr viel größer sein, sagt Nikolai Angow, ein Vertreter des bulgarischen IT-Branchenverbands BAIT und Regierungsberater. Er sieht bereits einen Engpass bei qualifizierten Arbeitskräften für die immer nur expandierende IT-Industrie in Bulgarien. Schon werden Programmierer aus dem Ausland angeworben, vor allem aus der Ukraine. Die bulgarische Regierung hat dafür eine "blue card" ausgegeben.

3.500 Lewa beziehungsweise 1.800 Euro verdient ein Software-Ingenieur im Balkanland, dreieinhalbmal mehr als der durchschnittliche Arbeitslohn von 1.006 Lewa (516 Euro) in diesem Jahr bisher. In leitenden Positionen können es zwei- oder dreimal mehr Gehalt sein. Immer noch weniger als im Westen, allerdings hat Bulgarien einige Vorteile: Die Einkommenssteuer liegt fix bei nur zehn Prozent abzüglich Werbungskosten und anderer Vergünstigungen; die Kaufkraft ist für Gutverdienende in Bulgarien erheblich höher als etwa in London oder Frankfurt; auch der Freizeitwert in Sofia mit den nahegelegenen Bergen und dem nicht allzu weit entfernten Meer ist für viele der jungen Programmierer ein entscheidendes Plus. "Ich habe eine Green Card für die USA, aber ich sehe keinen Grund wegzugehen", sagt Stojan Mitow, mit 30 Jahren einer der Anteilseigner von Dreamix.

Die Jungen bleiben

Mehr als eine Million Bulgaren haben seit der Wende von 1989 ihr Land verlassen, um anderswo ein neues Leben aufzubauen. Martin Tschotschew gehörte auch zu ihnen. 17 Jahre arbeitete er in der IT-Industrie in den USA. Mittlerweile ist er zurück in Bulgarien und Manager von Intracol, einem Unternehmen der Bulpros-Gruppe, einem der wichtigsten Technologie-Unternehmen in Bulgarien.

Tschotschew – er ist jetzt 43 – sieht in der IT-Branche einen Schlüssel für die Veränderung von Bulgarien. "Es gibt jetzt genug junge Leute, die bleiben und die überzeugt sind, dass wir hier etwas anders machen können", sagt der Manager. Die Unzufriedenheit im Land ist groß. Ein erheblicher Teil der Bulgaren – die Pensionisten, aber auch die mittlere Generation – fühlt sich auf der Verliererseite: Der Übergang zur Demokratie hat das Leben sehr viel prekärer gemacht, der Beitritt Bulgariens zur EU nur wenig Greifbares gebracht. Von den monatelangen Straßenprotesten 2013 für mehr Transparenz in der Politik und mehr soziale Gerechtigkeit scheint nichts geblieben zu sein.

Die "rosa Blase"

Mit ihrer vom Rest des Landes sehr verschiedenen Arbeitskultur nimmt sich Bulgariens junge IT-Branche wie eine Insel der Glückseligen aus. Oder wie es Welisar Welitschkow, der Mitinhaber des Onlineshops grabo.bg, lachend formuliert: "Wie leben in einer rosa Blase, und um uns herum ist alles dreckig."

Welitschkow, auch er mit 30 Jahren bereits Unternehmenschef, begann eigentlich als Schauspieler, tat sich dann aber mit Freunden zusammen, um Grabo – vom englischen "to grab", "grabschen" – zu gründen, den populärsten Schnäppchenshop in Bulgarien. Der bulgarische Privatsender Nova TV hält mittlerweile einen Mehrheitsanteil, und Welitschkow surft glücklich in seiner rosa Blase durch die bulgarische Tristesse: "Dieses Unternehmen hat von der zweiten Woche an Plus gemacht." (Markus Bernath aus Sofia, 17.8.2017)