Foto: APA/AFP/BILL GREENBLATT
Foto: APA/AFP/BILL GREENBLATT
Foto: APA/AFP/BILL GREENBLATT

Eine Ikone am Grübeln.

Foto: APA/AFP/BILL GREENBLATT

Wien/St. Louis – Der mittlerweile 54-jährige Kasparow tritt seit Montag dieser Woche beim Grand Chess Tour Event in St. Louis zum ersten Mal seit 2005 wieder bei einem offiziellen Turnier an. Neun Runden Schnellschach an drei Tagen sind gespielt, 18 Runden Blitzschach an zwei weiteren Tagen stehen bevor. Und betrachtet man nur das nackte Zwischenergebnis, dann sieht es nicht allzu gut aus für den Mann, den seine Gegner einst ehrfurchtsvoll "Das Monster mit den tausend Augen" nannten.

Zwei alte Hasen

Es wird den Champ kaum trösten, aber: Dem zweiten seiner Generation zuzuordnenden Spieler im Feld, Ex-Weltmeister Viswanathan Anand (47), ergeht es bisher nicht besser als ihm. 1995 lieferten sich die beiden im obersten Stockwerk des World Trade Center zu New York ein packendes WM-Duell, bei dem der Russe als klarer Sieger vom Platz ging. Heute liegt "Vishy", früher der mit Abstand stärkste Schnellschach-Spieler der Welt, gemeinsam mit seinem einstigen Bezwinger Kasparow auf dem geteilten letzten Platz des zehnköpfigen Weltklassefeldes von St. Louis.

Dabei atmete das Aufeinandertreffen der beiden Ex-Weltmeister einiges von der Atmosphäre früherer Kämpfe. Nach dem Remisschluss der von Kasparow mit Verve geführten Partie – natürlich eine sizilianische Verteidigung – analysierten die zwei noch lange angeregt miteinander. "Diese Art von Geplauder hat mir wirklich gefehlt", sollte Anand später im Interview sagen, nur um hinzuzufügen: "Wir tratschten wie zwei Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg."

Menschliche Ehre

Nicht nur bei Anand dürfte Kasparows Rückkehr Sehnsucht nach einer Zeit geweckt haben, in der die weltbesten Spieler nach ihren Partien noch nicht maulfaul in ihre Hotelzimmer eilten, um sich vom portablen Rechenknecht in aller Einsamkeit belehren zu lassen, ob und wo sie fehlgegangen sind. Ironie der Schachgeschichte, dass just auf Twitter die Aufmerksamkeit für das Comeback jenes Spielers geradezu explodierte, der in seinem ganzen Auftreten nach wie vor den Glanz einer untergegangenen, analogen Ära des Spiels verbreitet.

Denn auch wenn es Kasparow selbst war, der als erster Spitzenspieler die Nützlichkeit der Computer und Datenbanken entdeckte: Für den Mann aus Baku waren Schachprogramme noch reine technische Hilfsmittel, der Chef war und blieb er selbst. Sogar als er 1997 im Rückkampf gegen IBMs Deep Blue überraschend unterlag, kündigte er vollmundig an, die Silikon-Kiste das nächste Mal "in Stücke zu reißen", um die Ehre der Menschheit zurückzuerobern – eine Prognose, deren Akkuratesse IBM lieber nicht überprüfte, sondern Deep Blue stattdessen unauffällig in die schachliche Frühpension schickte.

Heute sieht man das alles entspannter – zu weit haben die Maschinen inzwischen die Nase in puncto praktische Spielstärke vorn. Das letzte Wort hat der Computer, die junge Garde der Spitzenspieler ist bescheidener geworden. Twentysomethings wie Caruana oder Karjakin wirken wie brave Studenten des Spiels, in deren Mitte der wie in alten Tagen grimassierende und sichtlich innerlich aufgewühlte Kasparow als zwar angegrauter, aber leidenschaftlicher Professor erscheint, der in jeder Partie für die Richtigkeit seines schachlichen Weltbildes kämpft.

Schmerzhafte Sehnsucht

Wie schön wäre es da gewesen, hätten sich die heimlichen Sehnsüchte von Schachfans und -Experten in aller Welt erfüllt: Der alte Garry zeigt der blassen Jugend in Abwesenheit von Weltmeister Magnus Carlsen noch einmal, wo der Bartel in St. Louis den Most holt. Und auch wenn jeder wusste, dass das nach menschlichem Ermessen (viel) zu viel verlangt war: Ein Funke Hoffnung blieb doch. Nun ja, die Sensation fand nicht statt. Kasparow schlug sich über weite Strecken dennoch hervorragend, zwölf Jahre fehlende Spielpraxis sind schließlich keine geringe Hypothek.

Schmerzhaft allerdings die Partie in Runde sieben gegen David Navara: In einem Stil, der frappierend an seinen großen Rivalen Anatoli Karpow gemahnte, packte Kasparow da die positionelle Würgeschlange aus und überspielte die tschechische Nummer eins nach Strich und Faden. Eine Serie schwacher Züge des Ex-Weltmeisters wandelte den sicher geglaubten Sieg allerdings noch in eine schreckliche Niederlage.

Schnell und schneller

Dass Vietnams Quang Liem Le in Runde acht einzügig einen ganzen Turm einstellte und Kasparow so seinen ersten vollen Punkt bescherte, konnte die Laune des Rückkehrers danach verständlicherweise kaum heben. Mit einer Niederlage gegen Fabiano Caruana beendete der Turniersenior das Schnellschach mit dreieinhalb Punkten aus neun Partien und muss sich ab Donnerstag, 20 Uhr MEZ mit dem jungen Gemüse nun auch noch im Blitzschach auseinandersetzen.

Übrigens, nur der Vollständigkeit halber: In Führung liegt der Armenier Lewon Aronjan, Blitzspezialist Hikaru Nakamura aus den USA lauert derzeit auf dem dritten Zwischenrang. (Anatol Vitouch, 17.8.2017)