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Frauen und Männer bei einer Demonstration zum Weltfrauentag am 8. März in Oakland, Kalifornien.

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Eine Frau demonstriert für die Rechte transgeschlechtlicher Personen bei einer Kundgebung in Chicago. Den Queer- und Gender-Studies wird vorgeworfen, die weltweiten massiven Verletzungen von Frauenrechten zu vernachlässigen.

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Rufmord und Mobbing, Sprachpolizei und autoritäre AktivistInnen mit Allmachtsfantasien: Es ist ein schauerliches Bild, das in "Beißreflexe" vom queerem Aktivismus in Deutschland gezeichnet wird. Herausgeberin Patsy l’Amour laLove, Geschlechterforscherin und selbsternannte Polittunte, hat für den im März erschienenen Sammelband 27 Beiträge zusammengetragen, die sich überschwänglich der Kritik am deutschsprachigen Queerfeminismus widmen.

Queer, schreibt die Berliner Forscherin im Vorwort, sei nicht mehr die Kritik an der heterosexuellen Normalität, sondern nur noch ein Aktivismus, "in dem sich autoritäre Sehnsüchte durch Sprech-, Denk- oder Bekleidungsverbote ausdrücken" würden. Statt emanzipatorischer Bestrebungen Liebe zum Islam und Hass auf Israel, Hass auf bürgerliche Schwule und auf Weiße mit Dreadlocks. Illustriert wird dieser Befund mit Nacherzählungen von Konferenzen und linken Partys, von queeren Interventionen in der LGBT-Szene und Texten feministischer WissenschafterInnen, die die Burka feiern oder das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verhöhnen würden.

Mit deftigen Vokabeln wird dabei nicht gespart: Von Hexenjagd und Schwulenhatz ist da zu lesen, selbst der buchstäbliche Wahnsinn wird den ungeliebten AktivistInnen unterstellt. Auf Differenzierung legen die AutorInnen hingegen wenig Wert: All das verschmilzt zu dem Queeraktivismus, zum Feindbild par excellence. Dennoch – oder gerade deshalb: Die Resonanz auf den im kleinen Querverlag erschienenen Band ist enorm: laLove und andere AutorInnen touren seit Monaten durch Buchläden und linke Szeneorte, in Wien lud die Buchhandlung für Schwule und Lesben, Löwenherz, im Rahmen der Vienna Pride zum Gespräch.

Breite mediale Debatte

"'Beißreflexe' hat einen Nerv getroffen. Es kommt zum richtigen Zeitpunkt, aber es ist nicht das richtige Buch", sagt Floris Biskamp, Soziologe und Politikwissenschafter an der Universität Kassel. "Im Band werden Randphänomene aufgebauscht und als repräsentativ für Queerfeminismus oder die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften dargestellt. Manche Beiträge sind außerdem schlichtweg bösartig", sagt der Wissenschafter im Gespräch mit dem STANDARD.

Zur Popularität des Buchs trug zuletzt auch die "Emma" bei. "Uni: Denkverbote & Psychoterror: Was ist los?", titelte das feministische Magazin und schloss nahtlos an die Berichterstattung über "Hetzfeministinnen" an, die im Netz ihr Unwesen treiben würden und von denen sich Alice Schwarzer persönlich verfolgt sieht.

Vojin Saša Vukadinović, "Beißreflexe"-Autor, Historiker und ehemaliger Student der Gender-Studies, lieferte in der "Emma" eine Generalabrechnung mit der jungen Disziplin, die er zum "akademischen Sargnagel der Frauenemanzipation" erklärt. Wissenschafterinnen würden mit unverständlichen Begriffen arbeiten und kulturrelativistisch agieren, Promovierende statt Gefängnisse und Frauenhäuser ihre Lieblingsserien beforschen, so die polemische Analyse des Autors. Aufgrund direkter Angriffe auf die deutsche Soziologin Sabine Hark und die US-amerikanische Philosophin Judith Butler – vor allem in Europa akademischer Superstar der Gender- und Queer-Studies – fühlten sich die beiden renommierten Wissenschafterinnen zu einer Antwort in der "Zeit" bemüßigt und reagierten auf die "Verleumdung".

Auf der Website des deutschen "Missy Magazine", dessen Redakteurin Hengameh Yaghoobifarah im "Beißreflexe"-Buch als eine Art Anführerin des deutschsprachigen Queerfeminismus auftaucht, veröffentlichte wiederum Soziologin Paula-Irene Villa einen Text, in dem sie Absatz für Absatz auf die von Vukadinović formulierten Argumente eingeht. "Forschungsarbeiten über Lieblingsserien schaffen Wissen. Und das ist die Funktion von Wissenschaft", antwortet Villa da trocken.

Immer wieder Gender-Studies

Auch wenn ein schneller Blick in das Programm der letzten Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung durchaus einen geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt erkennen lässt – Geschlechterforschung beschränkt sich keineswegs auf TV-Serien und Theoriearbeit.

Die Behauptung des "Emma"-Autors, nicht eine Arbeit aus den Gender-Studies habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine gesellschaftspolitische Debatte geprägt, hält Sabine Grenz, die im April die interdisziplinäre Professur für Gender-Studies an der Universität Wien angetreten ist, für sehr gewagt. "Debatten um die Quote, die Pflege von Familienmitgliedern, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, die gläserne Decke, die Diskriminierung von Frauen in bestimmten Bereichen, um nur einige Beispiele zu nennen, gehen unter anderem auf Untersuchungen der Genderforschung zurück, die ja die empirischen Daten geliefert haben", sagt Grenz.

Dass gerade die Gender-Studies immer wieder unter Beschuss stehen, obwohl komplexe Theorien Gegenstand sämtlicher wissenschaftlicher Disziplinen sind, führt die Professorin auf das weit verbreitete Alltagswissen über Geschlecht zurück, das durch die Geschlechterforschung hinterfragt wird: "Das verunsichert viele Menschen – erst recht, wenn sie die wissenschaftlichen Texte nicht verstehen."

Schutzräume und Verletzungen

Der Streit über modernen Queerfeminismus und linke Bewegungen ist indes längst nicht auf Deutschland beschränkt. Er tobt auch an US-amerikanischen (Elite-)Universitäten, wo viele der Theorien und Konzepte entwickelt werden, die auch hierzulande QueerfeministInnen prägen. Lehrende berichten von StudentInnen, die bei als problematisch empfundenen Begriffen oder AutorInnen intervenieren – und ihren Unmut auch online verbreiten.

Cynthia Belmont, Professorin für Gender und Women’s Studies am Northland College in Wisconsin, berichtet im Onlinemagazin "Salon.com" von der Belehrung einer Kollegin, die im Gespräch über die Stonewall-Proteste den Begriff Dragqueen verwendet hatte – dieser sei inkorrekt und abwertend. "Junge Studierende sind heute sehr sensibel gegenüber verschiedenen Diskriminierungsformen, und das finde ich wichtig und gut. Allerdings glaube ich nicht, dass der Fokus so stark auf persönlichen Verletzungen liegen sollte", sagt Belmont im STANDARD-Interview. Die Aufmerksamkeit ihrer Studierenden möchte die Professorin vom Individuum weg wieder stärker auf das Kollektiv lenken. "Die Lösung können nicht von potenziellen Verletzungen freie Safe Spaces sein, wir sollten vielmehr Machtverhältnisse kritisch und systematisch beleuchten."

Schutzräume und Verletzungen durch Sprache sind auch in "Beißreflexe" Thema, wo die AutorInnen von der Moralkeule berichten, die von QueerfeministInnen eifrig geschwungen werde. Die von Patsy l’Amour laLove kritisierte Hierarchisierung von Diskriminierungsformen – Rassismus und Transfeindlichkeit würden in der Szene als am schlimmsten gelten – identifiziert auch Politologe Biskamp als Problem. So würde der Rassismusvorwurf häufig alles andere "übertrumpfen", Debatten dadurch erschwert oder verunmöglicht.

Auch der von den KritikerInnen unterstellte Fokus auf Sprache und Sprachpolitik sei durchaus feststellbar. "Das führt dazu, dass in linken Szenen eine streng kodifizierte, wenig intuitive Sprache gesprochen wird. Wenn Verstöße gegen die Sprachregeln dann auch noch streng sanktioniert werden, wirkt das natürlich abschreckend", sagt Biskamp. Diese Sprache zu lernen falle Menschen mit akademischem Hintergrund tendenziell leichter – wodurch das ohnehin exklusive Umfeld sich weiter verenge.

Über solche Codes und Normen linker, feministischer Szenen eine sachliche – und damit fruchtbare – Debatte anzuregen war den AutorInnen der "Beißreflexe" angesichts ausschweifender Polemik wohl kaum ein ernsthaftes Anliegen. "Und außerhalb der Szenen freut man sich: Die Linken spinnen, sie sagen es ja selbst", meint Floris Biskamp. (Brigitte Theißl, 20.8.2017)