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Noch hat das Baugerüst nicht den Elizabeth Tower erreicht.

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Vier Jahre lang soll der Big Ben schweigen. Das gefällt nicht jedem.

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Bisher reicht das Gerüst dem berühmten Bauwerk erst bis zum Bauch. Bald schon aber soll es den 96 Meter hohen Elizabeth Tower noch um einige Meter überragen. Der Turm des Londoner Parlaments, im Volksmund nach seinem wichtigsten Stück Zubehör allgemein "Big Ben" genannt, braucht eine dringend nötige Generalüberholung. Aber ehe diese möglich wird, muss jenes Stück Zubehör außer Gefecht gesetzt werden: Wie die anderen Glocken im Turm wurde auch Big Ben, der größte und mit 13,7 Tonnen schwerste Klangkörper, am Montagmittag zum Schweigen gebracht. Dass die Stille mehrere Jahre währen soll, bringt Traditionalisten bis hin zu Premierministerin Theresa May in Wallung.

Der Turm des Londoner Parlaments wird renoviert. Während der kommenden vier Jahre werden die Glocken des Big Ben nicht zu hören sein.
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Am Montag um zwölf Uhr hörte Steve Jaggs, der Ingenieur mit dem schönen Titel "Bewahrer der großen Uhr" (Keeper of the Great Clock), auf dem Parliament Square den letzten Schlägen der aufs tiefe E gestimmten Glocke zu. Den Rest des Tages bringen Jaggs und seine Leute damit zu, Schlagwerk und Uhrwerk voneinander zu trennen. Die Gewichte, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für das weitgehend reibungslose Funktionieren der Uhr gesorgt haben, werden durch den Schacht zum Boden des Turms herabgelassen. Die Uhr am Turm wird fortan geräuschlos weiter die Zeit anzeigen, getrieben von einem profanen Elektromotor.

Glockenklänge Gefahr für die Arbeiter

Die Renovierung des Big Ben soll mit der Reparatur des gußeisernen Daches beginnen; unter die Lupe genommen wird auch das sogenannte Ayrton-Licht, das durch seinen Schein seit 1885 anzeigt, ob sich das Parlament abends in einer Sitzung befindet. Erst dann kommt Jaggs' Schützling an die Reihe: Jedes Einzelteil der großen Uhr erhält eine genaue Prüfung und liebevolle Restaurierung, die Zifferblätter werden geputzt, die Zeiger erneuert. Dadurch werde die Uhr "auf lange Sicht" erhalten, beteuert ihr Betreuer. Die Glockenklänge stellten in dieser Zeit eine Gefährdung der Arbeiter dar, schließlich reicht die Hauptglocke mit ihren 118 Dezibel an startende Jets oder überlaute Rockkonzerte heran.

Muss das Schweigen aber Jahre lang dauern? Das könne doch gar nicht sein, ließ sich die gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrte Regierungschefin vernehmen. Wo doch Big Ben seit 157 Jahren ein "Symbol der Stabilität" sei, wie der wichtigtuerische Labour-Hinterbänkler Steve Pound eifrigen Boulevardjournalisten in den Block diktierte: Selbst im Zweiten Weltkrieg habe sie unbeirrt weitergeschlagen. "Aber der Arbeitsschutz bringt sie zum Schweigen!"

Vier Jahre Zwangspause

Dringend nötige Renovierungsarbeiten gab es natürlich auch früher schon, und natürlich wurde Big Ben dafür zeitweilig abgestellt, zuletzt Mitte der 1980er-Jahre. Die diesjährige Aufregung um den eigentlich ganz normalen Vorgang ist drei Faktoren geschuldet: Erstens soll die Zwangspause für eine der berühmtesten Glocken der Welt diesmal recht lang dauern, nämlich bis zu vier Jahre. Zweitens gibt es derzeit wenig Aufregerthemen, noch herrscht in London nämlich Ferienruhe. Und drittens sorgt der allgegenwärtige Brexit für besondere Sensibilität gegenüber allem, was als Bedrohung für die hergebrachte, von Traditionen bestimmte Lebensweise angesehen werden könnte.

Das gilt fürs Parlament an der Themse vielleicht in besonderem Maße. Big Ben ist schließlich nur ein Teil davon, wenn auch der bekannteste. Als Gesamtheit gehört es zu den berühmtesten Gebäuden der Welt, genießt den Status als Unesco-Welterbe und hat jährlich eine Million Besucher, von seiner Funktion als Ort der Volksvertretung der sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt einmal abgesehen.

Längst fällige Gesamtrenovierung

Aber der neugotische Riegel aus honigfarbenem Kalkstein ist auch eine Bauruine. Die 650 Unterhaus-Abgeordneten und die 805 Lords und Ladys im Oberhaus sitzen auf einem erheblichen Risiko – teils 80 Jahre alte Elektro- und Gasleitungen im Keller, marode Wasserrohre, Asbest überall. Trotz jahrelanger Debatte und eingehender Expertisen konnten sich die Volksvertreter bisher nicht auf die eigentlich fällige Gesamtrenovierung einigen. Sie würde mindestens 3,9 Milliarden Pfund (4,27 Milliarden Euro) kosten und die Parlamentarier dazu zwingen, sich für sechs Jahre eine andere Bleibe zu suchen.

Den Ingenieuren bleibt also nichts anderes übrig, als sich geduldig mit Teilreparaturen dem Verfall entgegenzustemmen. Big Ben immerhin, das versichert Ingenieur Jaggs, werde "zu besonderen Gelegenheiten wie Neujahr" die vertrauten Schläge doch wieder live hören lassen. (Sebastian Borger, 21.8.2017)